Goethesturm: Hendrik Wilmuts dritter Fall (German Edition)
riesigen Krach letztes Jahr ist unser Verhältnis sehr angespannt. Er hat
mir immer noch nicht verziehen, dass ich ihn ins Altersheim gebracht habe.
Mutter, ja, für sie wird es schwer, wenn ich gehe. Und sie werde ich vermissen,
besonders ihre ›Früher war alles viel besser‹-Sprüche.«
Ich sah
Onkel Leo und Tante Gesa in Gedanken vor mir. Auch sie hatten sich verändert.
Eigensinnig waren sie beide geworden. Manchmal grenzte ihr Verhalten sogar an
Altersstarrsinn. Trotzdem: Die beiden ohne ihren Benno, das war unvorstellbar.
»Und was wird dann mit Sophie? Sie hat einen langfristigen Arbeitsvertrag.«
»Ach,
den kann man bestimmt ändern oder kündigen, in Frankfurt gibt es genug
Kliniken, ich kann auch versuchen, ihr eine Stelle im städtischen Krankenhaus
Höchst zu besorgen.«
Zu
meinem Erstaunen hatte er sich bereits darüber Gedanken gemacht.
»Und
wenn Sophie gar nicht weg will aus Weimar? Weil sie vielleicht sehr an ihrer
Stadt hängt? Weil sie sich gar nicht vorstellen kann, in einer Großstadt zu leben?
Noch dazu in Hessen.«
»Ich
glaube, der Knackpunkt ist ein anderer: Sie will nicht in den Westen. Da ist
sie einfach nicht flexibel genug.«
An
diesen Aspekt hatte ich bisher nicht gedacht. Ich wusste aber, dass Sophie in
dieser Beziehung eine recht starre Meinung hatte. Das neue Deutschland hatte
sie nicht wirklich in ihr Herz geschlossen. Ich musste vor einigen Jahren sogar
intensiv auf sie einwirken, zur Wahl zu gehen – ein hartes Stück Arbeit.
Benno
bewegte unschlüssig den Kopf hin und her. »Das tut mir leid für Sophie, aber es
muss sein. Für mich und mein Leben. Alles geht nicht gemeinsam. Tut mir
wirklich leid!«
»Hast
du Sophie das wenigstens erklärt? Ich meine, hast du ihr all das gesagt, was du
mir eben gesagt hast?«
»Nein.«
»Dann
wird es aber dringend Zeit!«
»Willst
du dich in meine Eheangelegenheiten einmischen, oder wie?«
Ich sah
aus dem Fenster. Auf dem Main fuhr eines der weißen Ausflugsschiffe in Richtung
Frankfurt. Dort hätte ich mich augenblicklich wohler gefühlt. Aber es gab kein
Entrinnen. Mut zur Klarheit, das war in diesem Moment gefragt. »Ja«, antwortete
ich, »ich mische mich ein. Weil es eure Ehe wert ist.«
Er sah
mich mit großen Augen an. Ich hatte Benno noch nie in den 50 Jahren weinen
gesehen. Jetzt standen ihm die Tränen in den Augen. »Scheiße, vielleicht hast
du ja recht!« Er fuhr sich mit der Hand durch den Bart.
»Erklär’s
ihr wenigstens«, sagte ich vorsichtig. »Mehr möchte ich ja gar nicht.« Taktisch
gesehen wäre das zumindest der erste Schritt. Weitere könnten folgen. »Sie liebt
dich! Und sie will dich zurück, das hat sie mir gesagt!«
Benno
atmete einmal tief durch. »Gut, ich rede mit ihr.«
»Versprochen?«
»Ja,
versprochen. Morgen Abend, wenn ich zurück bin.«
»Du
übernachtest in Frankfurt?«
Er
nickte.
»Wo
denn?«
Die
Frage war ihm sichtlich unangenehm. »Bei Liebrichs Sekretär … Joachim
Waldmann.«
»Was?
Der hat noch eine Wohnung hier?«
»Es ist
wohl sein Elternhaus, irgendwo in der Nähe des Hessischen Rundfunks …«
»Ist
Liebrich auch da?«
Benno
nickte. Ich schluckte alles herunter, was ich eigentlich sagen wollte. Besser
so. Wir gingen eine kleine Treppe hinab in die Loft-Küche der Senioren-WG. Für
die Bewohner gab es natürlich einen Aufzug. Mutter Hedda saß mit drei anderen
Damen an einem großen Tisch und spielte Doppelkopf. Neben ihnen stand eine
Flasche Sherry. Im Fernsehzimmer lief in voller Lautstärke eine
Nachmittagsserie.
Mutter
legte die Karten beiseite. Sie umarmte Benno, ich brachte ihn hinunter und
winkte ihm zum Abschied.
12. In einem Kopf
Jolanta Pajak musste büßen. Das
war klar. Wie so oft hatte sie sich über die Belange anderer einfach
hinweggesetzt, arrogant, rücksichtslos und maximal von sich überzeugt. Und sie
intrigierte. Sogar die Besetzung des Generalintendanten hatte sie beeinflusst.
Vielleicht war sie sogar mit diesem Stadtrat Benno Kessler ins Bett gestiegen,
der Frau war alles zuzutrauen. Sie meinte immer zu wissen, was zu tun war, wo
es langging.
Auch
sie musste nun Buße tun, so wie er selbst. Dieser Gedanke erfüllte Pierre mit
einer großen Genugtuung.
Nun saß
sie hinter dicken Mauern, tief unten und wartete. Von ihm aus konnte sie warten
bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Der ursprüngliche Plan sah zwar vor, sie maximal
zehn Tage in ihrem Gefängnis festzuhalten. Für diese Zeit hatten sie ihr Essen
dagelassen. Aber Pierre wusste noch
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