Goethesturm: Hendrik Wilmuts dritter Fall (German Edition)
über den Main und die
Frankfurter Skyline hatte, dazu eine Seniorenwohnanlage in der
Waldemar-Klein-Straße, die mit ihrem Konzept der Allein-Gemeinsam-Bauweise im
Loft-Stil Maßstäbe setzte. Quer durch das Viertel verlief ein künstlicher
Mainarm mit vielen kleinen Brücken, einige Häuser hatten sogar
Bootsanlegeplätze. Der Volksmund hatte sich ganz schnell auf den Namen
Klein-Amsterdam festgelegt.
Wegen
der beabsichtigten Aussprache hatte Mutter den Tisch nicht in der Gemeinschaftsküche
gedeckt, sondern in ihrem Wohnzimmer.
»Hallo,
Tante Hedda, danke für die Einladung!«
»Komm
rein, Benno!« Sie tat mir leid in dieser seltsamen Situation, aber ich sah
keine andere Möglichkeit. Während Benno seinen Mantel auszog, sagte sie: »Hör
mal, ich möchte dir gleich sagen, dass Hendrik auch hier ist!«
»Hendrik?
Ach so ist das …«
Ich
stand in der Wohnzimmertür. »Entschuldige, Benno, aber ich muss dich unbedingt
sprechen.«
»Und
das kannst du mir nicht selbst sagen?«
»Na ja,
ich dachte, du kommst dann nicht, weil …«
»Weil?«
»Ich
weiß auch nicht … wegen Liebrich …«
»Ach,
schon wieder!«
»Ja,
nein, eigentlich geht es um Sophie.«
Benno
schluckte.
»Ich
gehe runter in die Küche«, sagte Mutter und schob Benno sanft ins Wohnzimmer.
»Setzt euch bitte.«
Benno
und ich kannten uns seit über 50 Jahren. Aber in solch einer Situation waren
wir noch nie. Ich schenkte uns Kaffee ein und wir nahmen jeder ein Stück
Frankfurter Kranz. Mutters Paraderezept. Wie immer köstlich. Diese Aussprache
hatte ich arrangiert, also musste ich anfangen.
»Benno
… Sophie war bei uns, sie ist völlig geknickt, weil du nach Frankfurt gehen
willst. Und …«, jetzt musste ich genau die richtigen Worte wählen, »und weil
sie das Gefühl hat, dass Reinhardt Liebrich deine Entscheidung beeinflusst.«
Benno
nahm einen Schluck Kaffee. Vielleicht dachte er darüber nach, ob Sophies
Vorwurf einen gewissen Wahrheitsgehalt hatte. Er setzte die Tasse ab. »Weißt du
… ich möchte auch einmal etwas selbst bestimmen in meinem Leben, wirklich die
Weichen stellen, verstehst du? Bisher hat sich alles von selbst ergeben,
einfach so, teilweise haben andere für mich entschieden, mein Vater, Sophie,
der OB, natürlich habe ich zugestimmt, aber es war nicht wirklich meine eigene
Entscheidung. Und in letzter Zeit hat die Bürokratie immer mehr zugenommen,
dazu das knappe Kulturbudget in Thüringen, ich habe kaum noch kreative
Freiheit. Manchmal komme ich mir so vor, als wäre am Morgen schon bestimmt, was
ich nach dem Frühstück und vor dem Abendessen zu tun habe. Verstehst du das?«
Ich
zögerte. Auf einmal war die Situation nicht mehr so klar wie gestern Abend.
»Gut,
das verstehe ich, aber musst du deshalb Sophie so vor den Kopf stoßen? Ihr habt
wichtige Entscheidungen immer gemeinsam getroffen. Und jetzt? Offensichtlich entscheidest
du jetzt allein, oder mit Liebrich, und stellst Sophie vor vollendete
Tatsachen. Findest du das fair?«
»Liebrich
ist höchstens mein Berater, er hat gute Ideen und ist erfahren in solchen
Dingen.«
»In
welchen Dingen?«
»Karriereplanung.«
»Aha,
wirst du jetzt zum Karrieretyp, mit fast 60 Jahren?«
Benno
sah mich entsetzt an. »Das war gemein, so kenne ich dich gar nicht.«
»Kann
sein, sorry, aber es ist doch wahr.«
»Du
siehst also, es wird Zeit. Entweder ich will noch mal etwas erreichen, ganz
aktiv, von mir aus, oder ich lasse es und versaure auf dem Weimarer
Kulturdezernat.«
»Ach
so, auf einmal ist dir das Kulturdezernat nicht mehr gut genug, wieso denn
das?« Ich registrierte unterbewusst, dass meine Stimme lauter geworden war.
»Du
brauchst nicht zu schreien, ich höre noch gut, auch mit fast 60. Der
Oberbürgermeister hat sehr konservative Ansichten, meine eigenen Ideen kann ich
kaum umsetzen, er nervt mich immer mehr.«
»Ich
dachte, du wirst mal sein Nachfolger.«
»Es
sieht so aus, als würde er Kindermann bevorzugen, und der Parteiausschuss macht
nur das, was Gärtner sagt, das kenne ich schon, da habe ich keine Chance.«
»Kindermann?
Der Verwaltungsheini? Der kann doch gar nicht mit Menschen umgehen.«
»Stimmt,
das scheint aber niemanden zu stören.«
»Was sagen
deine Eltern dazu?«
»Nichts.«
Ich
schüttelte widerwillig den Kopf. »Du hast es ihnen noch gar nicht gesagt?«
»Nein.
Sie sind gut versorgt im Altersheim, gut betreut, keine Probleme. Vater
interessiert sich sowieso nur für seine Fernsehserien und, wie du weißt, nach
dem
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