Goethesturm: Hendrik Wilmuts dritter Fall (German Edition)
Minuten später fädelte ich mich
hinter Gelmeroda auf die Autobahn ein. Am Hörselberg bei Eisenach gab es den
üblichen Stau, der mich aber nicht mehr als zehn Minuten kostete. Danach fiel
mir ein, dass ich versuchen musste, irgendwie mit Benno ins Gespräch zu kommen.
Ich dachte lange darüber nach. Natürlich konnte ich ihn einfach auf dem Handy
anrufen. Sehr wahrscheinlich würde das nichts bringen, er wollte sein Ding
durchziehen und war sowieso sauer auf mich wegen meiner harschen Kritik an
Reinhardt Liebrich. Dann hatte ich endlich die rettende Idee. Ich drückte eine
der Kurzwahltasten. Das Freizeichen erklang durch die Freisprechanlage.
»Hedda
Wilmut hier.«
»Hallo,
Mutter!«
»Hendrik,
mein Junge, bist du unterwegs?«
»Ja,
bin bei Bad Hersfeld.«
»Gut,
wann kommst du heute Abend?«
»Weiß
noch nicht, bin heute Abend noch verabredet, danach komme ich.«
»Gut,
mein Junge, ich freue mich.«
»Ich
habe eine Bitte …«
»Natürlich,
um was geht es denn?«
»Um
Benno, er ist in Frankfurt und ich muss ihn unbedingt sprechen, aber wir haben
uns etwas, na ja …«
»Verkracht?«
»Könnte
man so sagen.«
»Als
Jungs habt ihr euch auch oft gestritten, eine Stunde später war wieder alles in
Butter.«
»So?
Das weiß ich gar nicht mehr.«
»Aber
ich.«
»Hast
du uns dabei geholfen?«
»Manchmal
schon. Manchmal auch Leo. Aber je älter ihr wurdet, desto weniger mussten dein
Onkel und ich eingreifen.«
»Würdest
du uns noch einmal helfen?«
»Natürlich.«
»Könntest
du Benno bitte anrufen und ihn heute Nachmittag zum Kaffee einladen? Aber nicht
erzählen, dass ich da bin.«
»So
schlimm?«
»Ja,
leider.«
»Gefällt
mir zwar nicht, diese Taktik, aber wenn du meinst …«
»Bitte!«
»Wann?«
»Um 16
Uhr, geht das?«
»Kann
ich einrichten.«
Ich gab
ihr Bennos Mobilnummer und verabschiedete mich mit einem dicken Dankeschön-Kuss
durchs Telefon.
Da ich
gut in der Zeit lag, gönnte ich mir an der Lavazza-Station im Rasthaus
Reinhardshain einen Espresso. Nebenbei suchte ich in der ›Thüringer Zeitung‹
begierig die Berichte zur Clavigo-Premiere. Der Artikel von Franziska Appelmann
war erwartungsgemäß vernichtend. Dies betraf jedoch nicht nur Dana
Hartmannsberger, sondern auch die anderen Schauspieler, den Regisseur, das
moderne Konzept des Stückes, das Bühnenbild, die Kostüme – ja eigentlich alles.
Allerdings fehlten mir die Details, ich hatte ein ausführlicheres Bild der
Vorstellung, da ich Generalprobe und Premiere miterlebt hatte, aber
Zeitungsleser, die nicht im Theater waren, wurden meines Erachtens nicht gut informiert.
Harry
Hartung ging in seinem als ›Kultur-Kommentar‹ gekennzeichneten Beitrag direkt
auf einzelne Fehler der Hartmannsberger ein. Sein Resümee: Sie habe sich mühsam
durchgekämpft bis zum Schluss, ihre Leistung war ›künstlerisch uninspiriert,
ohne Glanzlichter‹. Zu meinem Erstaunen fand er sogar versöhnliche Worte. Eine
Schauspielerin vom Format einer Jolanta Pajak sei eben nicht so leicht zu
ersetzen. Auch die kurze Vorbereitung mit dem Weimarer Ensemble in dem
ungewohnten Bühnenbild führte er als Entschuldigungsgrund auf. Das moderne
Konzept des von Wengler’schen Clavigos streifte er nur kurz und recht milde,
ganz anders als im Theater-Café nach der Generalprobe. ›Wo ist Jolanta Pajak?‹
war seine abschließende Frage.
Ja, wir
alle vermissten Frau Pajak, nicht nur auf der Bühne.
Das Institut für
Literaturgeschichte am Fachbereich 10 der Johann Wolfgang Goethe Universität
war inzwischen, ebenso wie fast alle anderen Einrichtungen, von Bockenheim in
das neue Universitätsgebäude im ehemaligen IG-Farben-Haus am Grüneburgpark
umgezogen. Großzügiger, moderner, alles auf einem Campus – ein echter
Fortschritt. Pünktlich um 10.45 Uhr stand ich im Hörsaal II. Aus einer
Fünfergruppe heraus rief ein Student, ich sei ja schon da, die anderen lachten
dazu. Ich wusste nicht, was er meinte, und hatte auch keine Zeit, darauf zu
antworten, schloss stattdessen meinen Laptop an. Die amerikanische Literatur in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war mein Thema in diesem Wintersemester,
das vor zwei Wochen begonnen hatte. Ich referierte gerne über diese Materie, so
konnte ich meine Erfahrungen aus der Zeit in Boston einbringen. Nach dem
Mittagessen folgte die Studenten-Sprechstunde. Die meisten kamen einfach
vorbei, obwohl eine Anmeldung im Sekretariat erwünscht war. Heute hatte sich
ausnahmsweise eine Studentin registriert.
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