Goethesturm: Hendrik Wilmuts dritter Fall (German Edition)
einem kalten Steinboden, nein, eher auf Fliesen, ja
… die weißen Kacheln fielen mir wieder ein. Ich nahm all meinen Mut zusammen
und erhob mich langsam, zunächst auf alle viere. Wer weiß, was sich über mir
befand. Nichts, soweit meine Hand reichte. Ich horchte. Immer noch dieses leise
Brummen. Ein Elektromotor. Vielleicht von einem Kühlschrank. Ja, das konnte
passen. Keine Geräusche, die auf die Anwesenheit eines anderen Menschen
hinwiesen. Allmählich kam mein Kreislauf auf Touren. Mein Hals fühlte sich rau
und trocken an. Ein kaltes Getränk wäre jetzt nicht schlecht gewesen. Oder ein
Espresso. Innerlich lachte ich über mich selbst: Ich war an einem unbekannten
Ort gefangen und dachte an nichts anderes als an Espresso. Typisch Hendrik,
hätte Hanna gesagt. Wo war Hanna? Wo waren Benno und Siggi? Ich zwang mich, nachzudenken.
Erst einmal musste ich den Raum erkunden, herausfinden, ob mich etwas bedrohte.
Dann wäre etwas Wärmendes an der Reihe, dann Hanna, Benno und Siggi. Du
schaffst das schon … Ich versuchte, mir Mut zu machen. Achtsam kroch ich ein
Stück nach vorn und tastete mich in der Dunkelheit voran. Keine Gegenstände,
keine Wand, kein Licht. Rechts und links: nichts. Weiter. Ich berührte eine
gekachelte Wand. Zumindest ein Fixpunkt. Ich folgte der Wand, bis ich auf etwas
stieß, das sich anfühlte wie ein … nein, das war unmöglich! Tatsächlich: ein
Bierkasten. Ich schüttelte ihn. Dann griff ich hinein – tatsächlich, volle
Bierflaschen. Leider lauwarm und mit Kronkorken. Ein Bügelverschluss wäre im
Dunkeln wesentlich einfacher zu öffnen gewesen. Ich zog eine zweite Flasche aus
dem Kasten und versuchte, die beiden Kronkorken gegeneinander anzusetzen. Nach
einigen Versuchen war eine der Flaschen geöffnet, wobei sich der halbe Inhalt
über meinen Anzug ergoss. Der Durst war fast unerträglich. Ich nahm einen
vorsichtigen Schluck. Nun ja – zumindest etwas Flüssiges. Kein Ehringsdorfer.
Und dazu lauwarm. Ich nahm einen zweiten Schluck, um meinen Hals zu beruhigen.
Das reichte, denn einerseits wollte ich meine Kopfschmerzen nicht verstärken,
anderseits musste ich weiterhin klar denken.
Ich
hatte eine Idee, nahm die zweite noch verschlossene Flasche, die mir als Hebel
gedient hatte, legte sie auf den Boden und ließ sie in den Raum hineinrollen.
Dem Geräusch zufolge war der Raum leer bis etwa drei, vier Meter vor mir.
Weiterhin keine Hinweise auf die Anwesenheit anderer Menschen. Ich tastete mich
an der Wand nach oben und kam endlich in den Stand. Der nächste Teilerfolg.
Dann hangelte ich mich an der Bierkiste weiter, stellte fest, dass es noch mehr
Getränkekästen gab. Verdursten würde ich also nicht. Befand ich mich in einem
Getränkekeller? Ich schob mich weiter an der Wand entlang, vergeblich nach
einem Lichtschalter suchend. Das Brummen des Elektromotors kam immer näher.
Schließlich hatte ich ihn erreicht. Es war ein riesiger Kühlschrank, etwa
viermal so groß wie ein normaler Haushaltskühlschrank. Ich spürte den Türgriff.
Konnte da irgendwo eine Falle lauern? Nein. Ich zog die Tür auf. Gleißendes
Licht ergoss sich in den Raum. Ich war so geblendet, dass ich die Augen
schließen musste. Vorsichtiges Blinzeln. Ich befand mich in einem bis zur Decke
gekachelten Raum, etwa vier mal sechs Meter, links von mir circa 20
Getränkekisten, rechts neben mir zwei weitere Kühlschränke, vor mir, am anderen
Ende des Raums, eine Stahltür, die einzige Tür, daneben ein großes Regal mit
Kisten, Gläser, ein Stapel Kartons mit Rotkäppchensekt. Der Trockene.
Schlagartig fiel mir ein, wo ich war. Die Weimarhalle, das gläserne Restaurant,
das Bier mit Frau Knüpfer, der Wein mit Siggi und Ewald, der Oberbürgermeister
mit dem Sektglas. Und der Häppchenkellner. Hier unten hatte er seine
Vorratskammer. Ich blickte in den Kühlschrank. Eine Batterie Schnapsflaschen
und zwei Häppchenplatten, mit Zellophan abgedeckt. Mein Magen begann, sich zu
heben. Daneben einige Flaschen Mineralwasser, gut gekühlt, ich schnappte mir
eine – welche Wohltat! Als ich die halbe Flasche geleert hatte, stellte ich sie
zurück und schloss die Kühlschranktür, um prompt wieder im Dunkeln zu stehen.
Tür noch mal auf, umsehen, Lichtschalter neben der Tür entdecken, hingehen,
einschalten – das war eine Art Automatismus. Eine große Leuchtstoffröhre an der
Decke erhellte nun den gesamten Raum. Ich rüttelte an der Stahltür. Sie war
verschlossen. Ich trommelte gegen die Tür. »Hallo! Hilfe! Hier bin
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