Goethesturm: Hendrik Wilmuts dritter Fall (German Edition)
wurde, meinte ich noch, Benno
neben mir zu sehen. Dann gingen die Lichter aus.
32. In einem Kopf
Pierre liebte nicht nur das
Theater, sondern auch Gedichte. Besonders das eine, das er immer wieder las,
das ihn aufwühlte und beruhigte, das ihm Weltschmerz und Zuversicht gab, das er
hasste und liebte:
Geh!
Gehorche meinem Winken,
Nutze
deine jungen Tage,
Lerne
zeitig klüger sein!
Auf des
Glückes großer Waage,
Steht
die Zunge selten ein:
Du
musst steigen oder sinken,
Du
musst herrschen und gewinnen,
Oder
dienen und verlieren,
Leiden
oder triumphieren,
Amboss
oder Hammer sein.
Jetzt wusste er definitiv, dass
er nicht der Amboss sein wollte. Die Frauen waren ihm gleichgültig, ja,
teilweise sogar lästig geworden. Die Weiber, die Weiber! Man vertändelt gar
zu viel Zeit mit Ihnen! Das galt in erster Linie für Dana Hartmannsberger.
Lange hatte er mit ihr gemeinsame Sache gemacht. Liebrich wollte das so. Doch
dann nahm dieses Gezänk überhand. Dieses Weibergekreische. Ihr Hass gegenüber
Jolanta Pajak. Eigentlich sollte sie nach einer Woche wieder freigelassen
werden, aber Dana wollte es nicht, sie musste sich ja erst in die Marie
einarbeiten. Von wegen, sie hätte die Rolle voll drauf. Lachhaft. Er hatte
alles von oben beobachtet.
Sogar
seine Mutter hatte ihn getäuscht, hatte sich mit Dana Hartmannsberger
verbündet, ihr Unterschlupf gewährt, ihr diesen komischen Grippevirus aus der
Uniklinik besorgt und ihr haarklein erklärt, wie ein Infusomat bedient wurde.
Er trauerte nicht um sie, nein, er fühlte sich von ihr benutzt. Der Einzige, um
den er trauerte, war sein Vater. Für ihn musste er noch etwas Wichtiges
erledigen, dann war seine Schuld beglichen. Er musste sich beeilen. Zwar hatte
er enormes Glück gehabt, weil ihn der Schuss von Dana Hartmannsberger nur am
Oberarm gestreift hatte. Durch sein aufgeregtes Herumhampeln hatte sie ihn
nicht tödlich getroffen. Aber der Arm blutete sehr stark, weshalb er sich über
die Terrasse ins Nachbarhaus zu Frau Napshäuser schlich und sich in deren
Waschküche versorgte. Aus alten Handtüchern bastelte er sich einen
Druckverband. Dann schlich er zu seinem roten Astra, noch bevor die gesamte
Kavallerie der Polizei angerückt war, und nahm Kurs auf Weimar.
33. Frankfurt-Bockenheim
Als ich wieder aufwachte, saßen
zwei Freunde an meinem Bett. Richard und Benno. Beiden hatte ich wahrscheinlich
das Leben gerettet. Aber das war es nicht, was jetzt zählte. Ich war noch nie
so froh, zwei echte Freunde neben mir zu haben.
»Das
wird wieder«, meinte Richard Volk, »fühlt sich nur an, als habe dich ein Pferd
getreten. Gut, dass du die schusssichere Weste tatsächlich angezogen hast.« Wie
recht er hatte.
Als ich
Benno ansah, musste ich lächeln. Er war, nachdem die Schüsse gefallen waren, im
Schlafanzug aus dem Obergeschoss heruntergerannt und hatte sich seine
Lederjacke übergeworfen.
Ich
wagte kaum, tief einzuatmen, denn es bereitete mir große Schmerzen. »Frau
Schlierbach?«
»Sie
ist tot«, antwortete Richard. »Frau Hartmannsberger auch. Du hast sie
abgelenkt, sodass ich meine Waffe ziehen konnte.«
Ich
nickte. »Waldmann?«
»Ich
dachte zunächst, er sei auch getroffen worden, aber offensichtlich hat sie ihn
verfehlt, er konnte fliehen.«
Innerlich
freute ich mich, doch das durfte ich natürlich nicht sagen.
»Vielleicht
freut dich das ja sogar ein bisschen«, meinte Richard.
Ich
lächelte, ohne zu antworten.
»Wolfgang
und Sophie Kistner geht es so weit auch gut, Waldmann hat sie betäubt, so wie
dich im Keller. Offensichtlich sollten sie geräuschlos beseitigt werden, das
war ihr Glück.«
Ich war
sehr erleichtert.
»Hendrik
…«, Benno sah mich unsicher an, »es tut mir sehr leid, dass du in die
Machenschaften von Joachim Waldmann und Dana Hartmannsberger mit hineingezogen
wurdest. Was ich beim Apfelwein gesagt habe, das ist natürlich …«
»Geht
schon klar, zieh dir lieber mal was an, sonst erkältest du dich noch!«
»Ja,
Papa!« Wir lachten. Und ich hatte Schmerzen dabei. Nicht nur äußerliche
Schmerzen wegen meiner Rippenprellung, sondern auch innere Schmerzen. Denn
Benno war nach wie vor der Meinung, dass Liebrich mit alldem nichts zu tun
hatte.
Es
klingelte. Die Notärztin erschien, hinter ihr jede Menge Uniformierte. Es war
dieselbe Ärztin wie gestern Abend im Südbahnhof. »Herr Wilmut?«
Ich
nickte. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich werde Sie jetzt
zwangseinweisen«, sagte sie lächelnd, »nur um zu
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