Götter der Lust
im Wald verschwinden.
«Also gut», gab Abby nach.
Lucy strahlte. «Das freut mich. Es ist gleich da drüben; wir müssen nur durch dieses Wäldchen.»
Abby hätte beinahe laut aufgestöhnt.
Von wegen nicht im Wald verschwinden.
Sie rang sich ein Lächeln ab und folgte Lucy auf dem schmalen Pfad. Dann blickte sie zurück, um zu sehen, ob Myles bemerkt hatte, dass sie vom Weg abgewichen waren.
Er hatte es offenbar aus den Augenwinkeln registriert,denn er wandte sich zu ihnen um, bevor sie hinter den Zweigen verschwanden.
Er wollte ihr schon nachrennen, doch Abby gebot ihm mit erhobener Hand Einhalt. Er nickte ihr zu und ging langsamer. Solange er nicht zu weit zurückfiel, konnte er sie leicht einholen, bevor etwas geschah.
So hoffte sie jedenfalls.
Je weiter sie in den Wald eindrangen, desto schmaler wurde der Pfad. Das durch das Laub der alten Bäume dringende Tageslicht hatte einen sanften grünen Schimmer.
Abby legte die Stirn in Falten. Sie hatte erwartet, dass die Bäume hier weitaus jünger sein müssten, doch diese hier sahen aus, als hätten sie schon immer hier gestanden. «Diese Bäume sind ganz schön alt», merkte sie an.
«Sie standen schon vor Königin Elizabeths Lebzeiten hier», erklärte Lucy und ging seitlich auf dem schmalen Pfad weiter, um gleichzeitig mit Abby sprechen zu können. «Weiter reichen die Aufzeichnungen nicht zurück.»
«Sind die Akten der Familie Winterton aus der Zeit davor verlorengegangen?»
«Das Landgut gehörte damals den Wintertons noch gar nicht. Es ging erst im Bürgerkrieg in ihren Besitz über, nach Elizabeth.» Sie blickte wieder nach vorn, um auf den Weg zu achten. «Mein Herzog lässt zwischen diesen alten Stämmen neue Bäume pflanzen. Siehst du?» Sie zeigte auf junge Setzlinge, um deren Stämmchen frische Erde angehäuft war. «Wenn du nach oben schaust, siehst du, dass die alten Bäume beschnitten worden sind, damit mehr Licht für die neuen einfallen kann. Bäume leben nicht ewig.»
«Sieht aber fast so aus», erwiderte Abby und fragte sich zum ersten Mal, ob diese Bäume vielleicht sogar noch im einundzwanzigsten Jahrhundert existieren könnten.
Lucy stieß ein fröhliches Lachen aus, das so gar nicht zu der ruhigen, gütigen Herzogin passen wollte. «Komm. Ich habe dich nicht hierhergebracht, damit du dir Bäume ansiehst.»
Abby blickte über die Schulter, sah aber keine Spur von Myles, während sie Lucy über den gewundenen und teilweise kaum vorhandenen Pfad folgte. Zweige verfingen sich in ihren Röcken und ihrem Umhang, und sie hörte Stoff reißen.
Sie verzog das Gesicht, denn sie hatte ja nicht viel Ersatzkleidung. Dennoch hielt sie weiter mit der Herzogin Schritt.
Plötzlich blieb Lucy stehen. «Schließ die Augen.»
«Aber dann falle ich hin!», wandte Abby ein.
«Nimm meine Hand.» Ihre behandschuhten Finger schlossen sich um die von Abby. «Ich führe dich.»
Allmählich hatte Abby das Gefühl, dass Lucy mehr im Schilde führte als nur einen kurzen Abstecher, der das Ziel hatte, sie zu überraschen. Dennoch schloss sie gehorsam die Augen und ließ sich führen, wobei sie zwar hin und wieder stolperte, aber nicht fiel.
Als Lucy plötzlich stehen blieb, lief Abby auf sie auf. Lucy bewahrte sie vor dem Sturz, indem sie die Arme um sie schlang, wenn auch ein wenig zu lange und zu innig.
«Kann ich jetzt die Augen wieder aufmachen?», fragte Abby, um Lucys allzu großer Nähe zu entkommen.
«Ja», flüsterte Lucy, und Abby fühlte ihren Atem auf ihrer Wange. Lucy war definitiv zu dicht bei ihr.
Abby öffnete die Augen und trat automatisch einen Schritt zurück. Sie ließ den Blick über die kleine Lichtung schweifen, auf der sie standen, umgeben von Bäumen, die zum Teil so sehr von Efeu überwuchert waren, dass man ihre Stämme nicht mehr sah.
«Schön ist es hier», merkte Abby an und suchte nach der Überraschung.
«Hier drüben.» Lucy überquerte die Lichtung und hielt auf eine Baumgruppe zu, deren Efeubewuchs am dichtesten war. Abby folgte ihr mit einem unguten Gefühl im Magen.
Zwischen zwei Bäumen hing ein regelrechter Vorhang aus Efeuranken. Lucy schob ihn zurück und trat in die Dunkelheit dahinter. Sie hielt den Efeu zurück, damit Abby ihr folgen konnte.
Als Abby durch das grüne Portal getreten war, blieb ihr der Mund offen stehen. Hinter dem Efeu kam prächtiger weißer Marmor zum Vorschein.
Der Anblick raubte ihr den Atem. Sie trat in einen runden Raum ein und fand sich in einer Art Tempel wieder. Was sie für
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