Götter der Lust
Baumstämme gehalten hatte, waren Säulen, die ein rundes Dach mit einem kreisrunden Loch in der Mitte trugen, das sich zum blauen Himmel hin öffnete. Das Licht, das durch diese Öffnung hereinfiel, schien durch den weißen Marmor reflektiert zu werden.
«Was ist das?», hauchte Abby fast schon ehrfürchtig.
«Eine Torheit», erklärte Lucy, während sie über den laubbedeckten Boden in die Mitte des Baus trat und sich mit ausgestreckten Armen im Kreis drehte – soweit sie die Arme in den einengenden Ärmeln ihres Kleides überhaupt strecken konnte.
«Bestimmt ist es eine Torheit, hier zu sein», murmelte Abby leise in sich hinein. Wenn sie dieses Bauwerk nicht als solches erkannt hatte, würde Myles es dann schaffen?
«Hast du etwas gesagt?», rief Lucy, deren Glückseligkeit nicht im Geringsten beeinträchtigt schien.
Abby ging kopfschüttelnd auf sie zu.
«Das hier», erklärte Lucy mit ausgestreckten Armen, «ist ein Diana-Tempel.»
«Woran erkennt man das?»
Lucy runzelte die Stirn. «Ich hätte dich für ein wenig romantischer gehalten.»
Abby zuckte mit den Achseln. «Man hat mir schon Schlimmeres vorgeworfen.»
«Schau nach oben.» Lucy zeigte zur Decke. «Sieh dir die tanzenden Frauen an. Das muss Dianas Gefolge sein.»
Abby blinzelte gegen das gleißende Licht an und trat ein paar Schritte zur Seite, um besser sehen zu können. Und tatsächlich: Was auf den ersten Blick wie eine natürliche Marmorierung im Stein aussah, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als ein Relief aus tanzenden und musizierenden, im altgriechischen Stil gewandeten Frauen.
«Ich dachte, als Dienerinnen Dianas müssten sie eigentlich auf der Jagd sein», merkte Abby an.
«Aber es gibt auch noch diese Statue …» Lucy ging zur gegenüberliegenden Seite des seltsamen Tempels hinüber.
Abby verstummte. Eine Statue? Myles’ Statue?
Lucy schob einen weiteren Vorhang aus Efeu beiseite. «Hier.»
Abby trat vor, um die steinerne weibliche Gestalt in der kleinen Nische besser sehen zu können. Sie trug Bogen und Köcher, und zu ihren Füßen lag ein Jagdhund. «Eindeutig Diana», musste Abby einräumen.
«Ist die nicht wunderbar? Mein Herzog hat sie mir gezeigt, als er mich bei unserem ersten Besuch auf seinem Landsitz hierherbrachte. Damals war ich sehr niedergeschlagen, und der Anblick heiterte mich auf.»
«Warum warst du traurig?», fragte Abby, die fand, dass die Herzogin nun auch nicht viel glücklicher aussah.
«Eine gute Freundin wollte unsere Gastfreundschaft nicht annehmen. Ich wünschte mir so sehr, dass sie sofort käme, aber mein Mann meinte, wenn wir noch ein wenig längerwarteten, würde sie vielleicht zugänglicher werden. Aber sie ist eben sehr eigensinnig. Eines Tages vielleicht …» Lucy seufzte wehmütig.
«Zugänglich in welcher Hinsicht?», fragte Abby
Lucy errötete. «Noch vor unserer Hochzeit wurde meinem Mann klar, dass ich eine gewisse … äh … Neigung zu anderen Frauen habe. Und ich dachte, bei meiner Freundin wäre das ebenso. Aber sie wies mich zurück …»
Sie tat Abby leid. «Manchmal ist das schwer zu sagen …»
«Dabei war sie selbst es, die dieses Verlangen in mir geweckt hatte, und so wusste ich, dass sie dazu durchaus in der Lage war.»
«Aber was ist denn geschehen? Warum hat sie dich zurückgewiesen?»
«Sie hat sich in einen Mann verliebt», seufzte Lucy. «Das war wohl so ähnlich wie bei dir, nehme ich an.» Sie kaute auf der Unterlippe. «Ich habe mich wohl geirrt, nicht wahr, als ich dachte, du –»
«Ich fürchte, ja», unterbrach Abby sie. «Und selbst wenn ich mich zu Männern und Frauen gleichermaßen hingezogen fühlen würde, wäre ich wohl in den Flitterwochen nur schwer abzulenken, nicht einmal von einer Schönheit wie dir.»
Lucy wandte sich mit gesenktem Kopf ab. «Das ist sehr nett von Euch, Mrs. Hardy.»
Abby berührte ihre Schulter. «Ich möchte trotzdem, dass wir Freundinnen sind. Myles – Mr. Hardy – und ich sind praktisch miteinander durchgebrannt. Du kannst dir ja vorstellen, wie das rübergekommen ist.» Schweigend dankte Abby ihrer Englischlehrerin an der Highschool dafür, dass sie sie
Stolz und Vorurteil
hatte lesen lassen.
«Rübergekommen?» Lucy drehte sich stirnrunzelnd zu ihr um. «Was für eine ungewöhnliche Formulierung.»
Abby errötete, und ihr stilles Lob wich stillen Flüchen. «Ich wollte damit sagen, dass meine Freunde und Verwandten unsere Verbindung nicht gutgeheißen haben.»
«Ist ja
Weitere Kostenlose Bücher