Götter der Lust
sah bei Nacht nicht besonders gut. Vielleicht hätte sie auf ihre Mutter hören und als Kind mehr Karotten essen sollen.
Beim Gedanken an ihre Mutter holte sie tief Luft. Ihre Mutter flippte jetzt wahrscheinlich völlig aus.
«Was ist denn?» Myles legte den Arm um ihre Schulter.
Sie schüttelte den Kopf und entzog sich ihm. «Nichts. Gehen wir.» Jeder eine Fackel in der Hand, gingen sie schweigend auf demselben Weg, den sie am Nachmittag genommen hatten, durch den Wald. Sie erreichten den von Efeu überwucherten Tempel in Rekordzeit.
«Woher weißt du, dass es hier ist?», flüsterte Abby.
Achselzuckend holte er weitere pechgetränkte Fackeln aus seinem Bündel und verteilte sie auf dem Boden des Tempels. «Ich weiß es nicht, jedenfalls nicht mit Sicherheit. Aber die Statue ist neueren Datums, das habe ich auf den ersten Blick erkannt. Der Marmor ist nicht so hochwertig und die Ausarbeitung nicht so detailliert wie bei einem Original aus dem alten Griechenland.»
«Und das alles willst du von der gegenüberliegenden Seite des Tempels aus gesehen haben?»
Myles nickte, ging zu der verborgenen Statue hinüber und hielt die Fackel davor. «Ja. Ich befasse mich schon mein Leben lang mit der Kunst der Antike und erkenne eine Fälschung, wenn ich eine sehe. Und diese hier ist auch noch aus dem falschen Marmor gefertigt.»
Er ließ den Vorhang aus Efeu fallen und hielt seine Fackel hoch, doch das Licht reichte nicht bis zum Relief an der Decke. «Und du hattest vollkommen recht mit deiner Einschätzung, dass dies hier keine Diana-Jüngerinnen sind.»
«Du warst die ganze Zeit hier und hast uns zugehört?», unterbrach Abby, froh darüber, dass ihr Erröten in der Dunkelheit nicht zu sehen war. «Du hast gehört –»
«Wie ihr beide über die Möglichkeit geschlechtlicher Vergnügungen gesprochen habt.» Myles’ kühle Stimme trug nicht gerade dazu bei, Abbys Unbehagen zu lindern. «Nur zur Erinnerung: Ich bin nicht wirklich verliebt in dich.»
«Danke», schnaubte Abby, «das weiß ich, aber wir hatten doch vereinbart, ein frischverheiratetes Paar zu spielen, oder hast du das schon vergessen?»
«Ich bitte um Verzeihung.» Myles klang, als meine er es auch so. «Ich wollte das nur nochmal sicherstellen.»
«Na klar.» Abbys Stimme klang geschäftsmäßig, obwohl ihr Herz ins Stocken geriet. «Aber wolltest du nicht etwas über die Decke sagen?»
Er räusperte sich. «Richtig, die Decke. Das sind keine Anhängerinnen der Diana, sondern Bacchantinnen, also weibliche Gefolgsleute von Dionysos, dem Gott der Gelüste. Gelüste auf gutes Essen, guten Wein, guten Sex. Da oben sind auch Männer zu sehen, halb Ziege, halb Mensch – Satyrn, die zu Dionysos’ Musik tanzen.»
«Wie Pan.»
«Ja, der war auch einer von ihnen.» Myles hielt die Fackel dicht über den Boden. «Und hier muss auch irgendwo ein Eingang sein.»
«Zum Keller?»
Myles’ Grinsen war selbst im Fackelschein nicht zu übersehen. «Zum Keller.»
Auch Abby hielt ihre Fackel jetzt tiefer und suchte den Marmorboden nach Anzeichen für einen Eingang ab – nach einem losen Stein, einer unebenen Oberfläche, einem Gitter oder sonst etwas. Sie konzentrierte sich dabei auf den Marmor unmittelbar vor ihr und nahm zugleich halb bewusst Myles’ Bewegungen auf der gegenüberliegenden Seite des Tempels wahr.
Als jeder seinen Teil des Bodens abgesucht hatte, trafen sie in der Mitte aufeinander.
Myles warf seine Fackel beiseite. «Hier ist er nicht.»
Abby folgte seinem Beispiel. «Vielleicht ist der Eingang ja draußen, irgendwo am Rand des Fundaments?» Der Gedanke ließ sie erschaudern. Die Außenseite des Tempels war von Efeu überwuchert, und darum herum häufte sich vermoderndes Laub und wer weiß was noch alles.
«Wir brauchen Pickel und Schaufeln, um das Fundament freilegen und diesen Eingang finden zu können. Er kann auch gut und gern 30 Meter vom Tempel entfernt liegen.» Seine Augen leuchteten ob dieser Herausforderung. «Ich nehme nicht an, dass dieser Bau in deinen Plänen enthalten ist.»
Abby schüttelte den Kopf. Sie hatten ihre Zeit vergeudet.
Er nahm ihr Gesicht zwischen die Hände. «Tut mir leid, Abby. Das war wohl vergebliche Liebesmüh.»
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und fuhr mit den Lippen über die seinen. «So würde ich das nicht sehen.»
Ohne dass einer von beiden es gewollt hätte, wurde ihr Kuss immer inniger. Sie zog ihn näher zu sich heran und spürte, wie seine Hände über ihren Nacken und
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