Götter der Nacht
Privatbibliothek. Sie mochte nicht ganz so umfangreich sein wie die seines Bekannten Zarbone im Schönen Land, doch sie war sehr viel besser geordnet. Die Bücher waren auf blitzblanken Regalen aufgereiht und befanden sich offenkundig in bestem Zustand. Auf einem Arbeitstisch häuften sich Reinigungsutensilien und Buchbinderwerkzeuge. Hulsidor schien gerade mit einigen Neuanschaffungen beschäftigt zu sein.
Sapone erklärte ihm die Lage so diplomatisch wie möglich und flehte ihn an, ihn ausreden zu lassen, bevor er eine Antwort gab. Und die folgte prompt.
»Nein! Das ist viel zu gefährlich. Die Geister sind zurzeit sehr unruhig. Beim letzten Besuch hätte mich ein Kragenwürger fast erwischt. Und außerdem bringt Ihr mir bestimmt nur alles durcheinander!«
»Wir werden Euch keinerlei Unannehmlichkeiten bereiten, Meister Hulsidor«, versprach Corenn. »Wir werden Euren Anweisungen strikt folgen.«
»Und noch dazu sind es Fremde! Brulin wird sie nie und nimmer vorbeilassen!«
»Wer ist das?«, fragte Rey.
»Der einzige Wächter, der vor dem Turm postiert ist. Aber er ist nur tagsüber im Einsatz«, erklärte Sapone.
»Was?«, zeterte der Bibliothekar. »Das soll doch nicht etwa heißen, dass Ihr nachts dorthin wollt? Ihr seid wahnsinnig!«
»Ich habe eine Bürgschaft für Euch ausgehandelt«, versuchte ihn sein Dienstherr zu beschwichtigen. »Im Falle Eures Todes wird mir die hier anwesende Dame fünfundzwanzig Monarchen zahlen.«
»Wie schön für Euch! Dann nehmt eine Laterne und geht selbst hin! Nachts setze ich da keinen Fuß hinein, auf keinen Fall!«
Léti schob sich bis zu dem Bibliothekar vor. Sie nahm ihn sanft bei der Hand, setzte ein flehendes Gesicht auf und sah ihm fest in die Augen. »Meister Hulsidor … Bitte«, bettelte sie.
Der Angesprochene tat, als würde er sie nicht bemerken, während die anderen den Atem anhielten. Nach einigem Zögern gab er schließlich nach. »Nun gut, nun gut«, sagte
er widerwillig. »Bei der Gelegenheit kann ich im neunten Stock vorbeisehen, zu dem mir ein störrischer Kollege immer den Zutritt verweigert. Aber ich übernehme das Kommando!«
Léti gab dem Alten einen leichten Kuss auf die Wange und verließ den Raum, gefolgt von Frosch. Die anderen sahen ihr bewundernd nach.
Rey wollte schon einen Witz reißen, besann sich dann aber eines Besseren und begab sich auf die Suche nach Maz Lana.
Lana hatte Grigáns Zimmer betreten und dort den jungen Yan entdeckt, dem stumme Tränen übers Gesicht liefen. Sie hatte seinen Namen gerufen, aber er hörte sie nicht. Erst jetzt bemerkte er sie und fuhr erschrocken zusammen. Er richtete seinen Blick auf die Wand, in der ein Riss klaffte. Dann wurde er ohnmächtig.
Als sie zu ihm stürzte, kam er wieder zu Bewusstsein. Er wirkte ermattet und sein Blick war glasig, aber er war wach.
»Du hast geweint, Yan«, sagte sie unumwunden.
Der Junge nickte. Das hatte er bemerkt, als er in die Wirklichkeit zurückgeholt worden war. Er hatte einen Fehler begangen, der tödlich hätte enden können.
Gebrauche deinen Willen niemals im Zorn, unter Schmerzen oder wenn du betrunken bist, hatte Corenn ihn gewarnt. Jetzt wusste er, warum. Der Geist verlor dabei alle Kraft und entzog dem Körper zu viel Energie. Hätte Lana ihn nicht zufällig aus der Konzentration gerissen, hätte er den Rückschlag vielleicht nicht überlebt.
Er sah die Bruchstelle in der Wand und lief vor Verlegenheit rot an. Es waren keine Steine herabgefallen, also
war wohl kaum etwas zu hören gewesen. Aber die Risse im Mauerwerk waren mehr als deutlich zu sehen. Der Schaden ließ sich nie und nimmer verstecken, bevor ihn jemand entdeckte. Er würde Corenn seinen Fehler beichten müssen … Aber das hätte er ohnehin getan.
Er ging auf Lana zu, die schon in ihre Gebete versunken war. Die Maz hatte ihm keine einzige Frage gestellt. Er war dankbar, dass sie so rücksichtsvoll war. Nach kurzem Zögern setzte er sich neben sie auf den Boden, um ebenfalls Andacht zu halten. Seit Norines Tod hatte er sich nicht mehr an Eurydis gewandt, doch die Begegnung mit Usul hatte seinen Glauben neu bestärkt. Die Götter existierten tatsächlich. Und sie hörten den Menschen zu.
»Er ist nicht in Gefahr, Yan«, sagte Lana nach diesem Augenblick der inneren Einkehr. »In Ith hatten wir einige Fälle der Farikskrankheit. Ich habe noch nie gehört, dass jemand daran gestorben ist.«
Er nickte traurig. Die Priesterin versuchte aufrichtig, ihn aufzumuntern. Aber
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