Götter der Nacht
würde mich doch sehr wundern, wenn man in einer Nacht mehr über Nol, die Pforten und das
Jal’karu herausfinden kann, als unsere Vorfahren in einem ganzen Jahrhundert in Erfahrung gebracht haben.«
»Der Tiefe Turm ist seit über einem Jahrhundert geschlossen«, berichtigte ihn Corenn sanft. »Außerdem birgt er die größte Bibliothek der bekannten Welt. Stellt Euch vor, welche Wissensschätze dort zu finden sein müssen … Werke aus Zeiten, in denen es Romin noch nicht einmal gab.«
»Hm.« Grigán konnte sich der Begeisterung der Ratsfrau nicht so recht anschließen. Nach der erzwungenen Bettruhe, die ihm umso länger erschienen war, da er sonst nur wenig Schlaf brauchte, war er nun wieder voller Tatendrang. Das Fieber war verschwunden und seine Erschöpfung wie weggeblasen. Er fühlte sich großartig.
Als er überlegte, was er mit seiner Zeit anfangen könnte, fiel sein Blick auf Léti. »Unterricht gefällig, gnädiges Fräulein?«
Sie sprang strahlend auf und lief ihm voran auf den Gang hinaus.
Grigán wollte gerade den Raum verlassen, als er wie angewurzelt vor Yan stehen blieb. Er glaubte sich dunkel zu erinnern … Während er schlief … Jemand war …
Der Junge sah ihn erstaunt an. Grigán schüttelte verlegen den Kopf und folgte seiner Schülerin.
Weil Yan bis zum Abend mit Bowbaq verschwand, fand Corenn keine Gelegenheit, ihn nach dem mysteriösen Riss in der Wand zu fragen, hinter dem sie ein fehlgeschlagenes Experiment vermutete. Glücklicherweise legte Sapone so großen Wert darauf, seine Besucher zu ignorieren, dass er den Schaden noch nicht bemerkt hatte. Er hätte sicher eine saftige Entschädigung verlangt und sie vor die Tür gesetzt.
Es war nicht Corenns Art, ihren Schüler auszuschelten, und das hatte sie auch gar nicht vor. Sie wollte nur hören, was passiert war, und gegebenenfalls einige magische Grundsätze, die Yan vielleicht nicht richtig verinnerlicht hatte, noch einmal erklären.
Doch auch am folgenden Tag ergab sich keine günstige Gelegenheit. Wieder zog sich Yan mit Bowbaq in eines der unzähligen Zimmer des Hauses zurück, ohne den anderen gegenüber auch nur ein Wort zu verlieren. Beide wirkten sehr aufgeregt. Die Erben, die ihren jungen Freund seit dem Besuch auf der Heiligen Insel der Guori nicht mehr hatten lächeln sehen, ließen die Geheimniskrämer in Ruhe.
Jeder vertrieb sich die Zeit bis zum Abend auf seine Weise. Grigán riet seinen Gefährten, sich etwas auszuruhen, da ihnen eine weitere schlaflose Nacht bevorstand. Er selbst dachte nicht im Traum daran, sich hinzulegen. Sein Elan hatte sich nach seiner Genesung geradezu verdoppelt. Erst polierte, schärfte und fettete er sämtliche Waffen der Erben, dann überprüfte er die restliche Ausrüstung. Als ihm das Warten unerträglich wurde, beschloss er, in die Stadt zu gehen, um die Reise nach Ith vorzubereiten. Da er nur einige Brocken Romisch sprach, erbot sich Rey, ihn zu begleiten, und Léti schloss sich ihnen an.
Lana diskutierte einige Dekanten lang mit Sapone über Theologie. Dabei bewies die Priesterin bewundernswerte Geduld, denn während sie den Lobreden auf Odrel den Tränenreichen aufmerksam lauschte, machte der Rominer nicht die geringsten Anstalten, den Prinzipien der eurydischen Moral Gehör zu schenken. Auch aus einem Samenkorn im Wind kann ein Baum wachsen, dachte die Maz insgeheim. Im Laufe der Zeit würde Sapone hin und wieder an ihre Worte zurückdenken, und selbst wenn er sich nicht zum
eurydischen Glauben bekehrte, würde er vielleicht wenigstens eine der drei Tugenden der Göttin beherzigen: Wissen, Toleranz, Frieden.
Da fiel ihr ein, dass ihr Vorfahr, Maz Achem, genau diese Theorie nach seiner Rückkehr von der Insel Ji in Zweifel gezogen hatte. Unsere Priester sollten sich der Mission verschreiben, so viele Ungläubige wie möglich zu bekehren, hatte er verlangt. Und jeden Dämonenkult auszulöschen, wenn nötig mit Gewalt.
Natürlich. Er hatte das Jal’karu betreten …
Corenn wiederum war allein zurückgeblieben und beschloss, ihr Tagebuch weiterzuführen. Die Niederschrift half ihr, Ordnung in die Fülle von Informationen zu bringen, die sie auf ihrer Suche angesammelt hatten. Ihren Feind kannten sie jetzt. Doch das warf nur neue Fragen auf. Wie konnte es sein, dass er noch lebte? Und warum trachtete er ihnen nach dem Leben?
Woher nahm er seine Kräfte? Wie weit reichten sie?
Es schien ganz so, als würden sie die Antworten nur finden, wenn sie das Rätsel der
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