Götter der Nacht
einige Monde lang zu überleben, wenn die Götter ihnen gnädig sind. Die meisten Konkubinen nehmen sich schon nach wenigen Dekaden das Leben.
In der Luft hängt der Geruch von Schweiß und Angst. Sechs Frauen sind hier eingeschlossen, zwei sind bereits tot. Eine dritte liegt auf der Seite, ihr Blick ist starr, Speichel läuft ihr über die Wange. Die anderen haben sich an der Wand zusammengekauert. Auch geistig wird ihnen Gewalt angetan.
Der hohe Dyarch steht in der Mitte des Zimmers, ohne sich um ihr Leid, um diese für immer zerstörten Leben zu kümmern. Ihn interessiert nur das Urteil seiner Kreatur. Also erforscht der junge Meister die Körper der Überlebenden.
Es dauert nur einen Augenblick. Dann schüttelt er verneinend den Kopf.
Saat wird wütend, und sein Zorn entlädt sich gegen die Geisteskranke, deren Lebenslicht sofort erlischt. Er hat nur mit dem Finger auf sie gezeigt, doch die Sklavin ist sofort tot.
Da seine Wut noch nicht verraucht ist, liefert er die drei anderen Frauen seiner Kreatur aus, die ihren Todeskampf mehr als eine Dezille lang hinauszögert. Die Gladoren sehen nichts als drei Sklavinnen, die sich unter dem geistesabwesenden Blick ihres jungen Meisters vor Schmerzen winden. Saat hingegen bewundert den Beweis einer Macht, die schon jetzt zehnfach stärker ist als die seine.
Ein wohliger Schauer läuft ihm über den Rücken, als er daran denkt, dass diese Kraft mit jedem Tag anschwillt. Und dass sie ganz und gar in seiner Hand liegt.
»Wir sind gleich da«, sagte der Bibliothekar über die Schulter. »Macht möglichst wenig Lärm.«
»Warum? Glaubt Ihr etwa, die Geister schlafen?«, witzelte Rey.
»Die Geister vielleicht nicht, aber der Wächter ganz bestimmt«, zischte Hulsidor wütend. »Wir kommen direkt an seinem Haus vorbei, also seid leise!«
Schweigend passierten die Erben das Wachhäuschen und näherten sich dem Tiefen Turm. Nach außen ragte das Bauwerk nicht mehr als fünf Stockwerke in die Höhe, und abgesehen von seinem hohen Alter und dem baufälligen Zustand unterschied es sich kaum von den anderen Gebäuden der nebelverhangenen Stadt.
Yan bemerkte, wie vorsichtig der Bibliothekar auf den
Eingang zusteuerte. Der Rominer ließ die seit über hundert Jahren zugemauerten Fenster nicht aus den Augen. Er schien drauf und dran zu sein, bei der kleinsten Regung kehrtzumachen.
»Können die Geister denn aus dem Turm heraus?«, fragte Yan unbedarft.
»Das ist es ja! Ich weiß es nicht!«, entgegnete Hulsidor. »Tagsüber ist das noch nie vorgekommen, aber das beweist nichts. Nachts werden sie noch dreister. Vielleicht lauert der Schattenfresser schon an der Tür!«
»Woher wisst Ihr, dass sie nachts dreister werden?«, wunderte sich Corenn.
»Sie bringen meine Abteilung völlig durcheinander. In einer Nacht verrücken sie mehr Bücher als ich in einer ganzen Dekade.«
»Das erleichtert unsere Suche ja gewaltig«, murmelte Rey.
Das Eingangstor war mit einem Bild des romischen Kronenadlers verziert. Aber Hulsidor winkte die Erben weiter zu einer schlichteren, versteckt gelegenen Nebentür.
»Die große Tür ist verrammelt«, erklärte er. »Selbst wenn man wüsste, wo sich der Schlüssel befindet, ist es vermutlich nicht möglich, sie zu öffnen.«
Der Nebeneingang wurde hingegen nach wie vor benutzt. Durch eine einfache Holztür gelangte man auf den Absatz einer Treppe, die geradewegs zu den unteren Stockwerken führte: in die Kellergeschosse des Tiefen Turms.
»Dieser Eingang ist den Bibliothekaren vorbehalten«, sagte Hulsidor. »Das war schon immer so.«
»Was steht denn auf dem Schild an der Tür?«, fragte Lana.
Die Priesterin war zwar sehr gebildet, aber wie die meisten Fremden beherrschte sie das komplizierte romische Alphabet
kaum. Hulsidor antwortete, ohne einen Blick auf die Inschrift zu werfen.
»Was wohl? Ein Verbot, nach königlichem Erlass, und eine Warnung. Ich nehme an, dass Euch das nicht von Eurem Vorhaben abbringt?«, fragte er ohne große Hoffnung.
Corenn schüttelte den Kopf, nachdem sie sich das Schild angesehen hatte. Sie konnte die romische Schrift gut genug lesen, um die Auskunft des Bibliothekars bestätigen zu können.
»Tja, dann kann es wohl losgehen. Ich gehe vorweg, aber versperrt mir auf keinen Fall den Ausgang. Stellt Euch die Geister wie ein Rudel Wölfe vor. Wenn Ihr ihnen zeigt, dass Ihr Angst habt, greifen sie an. Wenn Ihr sie provoziert, greifen sie an. Sprecht nicht laut, sondern flüstert nur. Lauft nicht,
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