Götter der Nacht
sondern bewegt euch langsam. Geht ihnen aus dem Weg, aber lasst sie nicht aus den Augen. Wenn einer von ihnen versucht, Euch zu reizen, weicht zurück. Wenn er weitermacht, dann sagt mir Bescheid und geht langsam nach oben. Wenn er anfängt zu singen oder einen seltsamen Geruch verbreitet, heißt das, dass er Hunger hat. Dann achtet auf das, was hinter Euch passiert. Sie sprechen sich ab und greifen gemeinsam an.«
»Ich bleibe wohl besser hier, Corenn«, sagte Bowbaq scheu. »Ich kann nicht lesen, ich werde euch also nicht viel nützen …«
»Auf keinen Fall!«, erregte sich Hulsidor. »Das hättet Ihr Euch vorher überlegen müssen. So kann Euch ja jeder sehen und mich verraten!«
»Es ist besser, wenn wir zusammenbleiben«, meinte auch Grigán. »Denk an Junin.«
Der Riese erschauerte bei dem Gedanken an den Mog’lur, der sie in Séhanes Palast angegriffen hatte. Er gruselte sich
vor Gespenstern, aber die Vorstellung, in dieser nebeligen Nacht allein auf die Rückkehr seiner Freunde zu warten, jagte ihm noch mehr Angst ein. Er umklammerte seinen Streitkolben und bedeutete den anderen mit einem Nicken, dass er ihnen folgen würde.
Hulsidor vergewisserte sich, dass die okkulten Zeichen, die er sich auf die Haut gemalt hatte, nicht verwischt waren. Einer plötzlichen Eingebung folgend, holte er Feder und Tinte aus seiner Umhängetasche und zeichnete Léti wortlos ein kompliziertes Muster auf die Hand. Die junge Frau ließ ihn gewähren. Dann verstaute er seine Utensilien, ohne den anderen denselben Dienst zu erweisen.
»Ab jetzt wird geschwiegen«, befahl er in scharfem Ton. »Und tut genau, was ich Euch sage.«
Der Bibliothekar drehte einen kleinen Schlüssel im Schloss und schob die Tür behutsam auf, stets darauf gefasst, sie beim kleinsten Anzeichen einer Gefahr wieder zuzuwerfen. Im Innern war es stockfinster. So weit, so gut. Er legte die Hand auf den Griff seines Schwerts und stieß die Tür ganz auf.
Irgendwo in der Dunkelheit krachten zwei Stapel Manuskripte zu Boden. Vor Schreck zuckten alle zusammen. Eine weißliche Gestalt schwebte mit einem hämischen Kichern davon.
»Solche Streiche hinter der Tür spielen sie gern«, erklärte der Rominer. »Das ist nicht weiter gefährlich, man gewöhnt sich daran. Aber passt zwischen den Regalen gut auf.«
Als die Erben dem Bibliothekar ins Innere folgten, warfen sie sich beunruhigte Blicke zu. Überall sonst in den Oberen Königreichen waren die Spukgeschichten aus dem Tiefen Turm nur eine Legende, so wie der Wahrheitsvogel, der Brunnen von Trusset oder der Mondmischer. Aber hier kam ihnen die Legende plötzlich beängstigend wahr vor.
Der Rominer zündete weitere Lampen an und drückte jedem eine in die Hand. Bald war der ganze erste Raum erleuchtet. Die Zwischenwände waren niedergerissen worden, sodass sie den gesamten Durchmesser des Turms überblicken konnten: Er maß rund zwanzig Schritte. Im Erdgeschoss standen nur wenige Bücher, denn es diente lediglich als Durchgang zu den unteren Geschossen.
Der Bibliothekar schnupperte wie ein Tier, das Witterung aufnimmt, sagte aber nichts. Grigán zog sein Krummschwert, Rey und Léti ihre Rapiere. Yan überlegte kurz, ob er ebenfalls sein Schwert ziehen sollte, doch dann siegte seine Neugier, und er begann den Raum zu erkunden.
»Unser Gepäck lassen wir lieber hier«, schlug Grigán vor. »Und die Katze auch.«
Frosch miaute in seinem Körbchen, als hätte er verstanden. Er war so klein und unauffällig, dass man ihn leicht vergaß. Bowbaq, der den Winzling mit sich herumtrug, spürte sein Gewicht nicht einmal.
»Dann warte ich hier«, beschloss Léti, die ihr Kätzchen nicht allein zurücklassen wollte. »Mit Bowbaq, wenn es ihm recht ist.«
»Ja«, beteuerte der Riese eilig. Ihm fiel ein Stein vom Herzen.
»Gut«, sagte Hulsidor. »Verlasst den Raum nicht. Und fasst auf keinen Fall irgendetwas an. Die anderen kommen mit.«
Der Bibliothekar stieg die schmale Steintreppe hinab, die sich an der Mauer entlang nach unten wand. Yan, Grigán, Corenn, Rey und Lana folgten ihm.
Als sie mit Bowbaq allein war, ließ Léti die Katze frei. Prompt machte sich Frosch über ein goronisches Schifffahrtslehrbuch her, dessen Seiten vom Alter brüchig waren.
Im Schutz der Dunkelheit kicherte eine weiße Gestalt in sich hinein. Sie freute sich schon auf den Streich, den sie gleich spielen würde.
Die Schritte Tausender und Abertausender Besucher hatten die Treppenstufen glatt und rutschig werden
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