Götter der Nacht
stand der Riese vor einem Geist in weiblicher Gestalt und starrte die Erscheinung verzückt an.
Léti versteckte sich hinter einem Berg alter Pergamente. Tränen stiegen ihr in die Augen, doch sie schluckte sie wütend hinunter. Zum ersten Mal seit langem war sie auf sich allein gestellt. Aber sie würde sich nicht von ihrer Angst lähmen lassen. Sie würde nie wieder den Rückzug antreten. Sie würde etwas tun.
Sie musste nur noch herausfinden, was.
Grigán stürzte in den Büchersaal des elften Stockwerks, gefolgt von Rey. Vor Hulsidor reckte sich eine weiße Gestalt wie eine Kobra in die Höhe. Man erkannte undeutlich zwei mit Klauen bewehrte Arme und einen Kopf mit drei Schlitzen: zwei für die Augen und ein weiterer, sehr viel größerer, in dem Fangzähne aufblitzten.
»Rührt Euch nicht vom Fleck«, flüsterte der Bibliothekar. »Wir haben ihn überrascht. Vielleicht verschwindet er von selbst wieder.«
Stocksteif standen die Erben vor der bedrohlichen Erscheinung. Ihre Gestalt veränderte sich unaufhörlich. Sie schien in der Luft zu tanzen, wuchs an und schrumpfte wieder zusammen, blieb dabei aber stets größer als ein Mensch.
Auf einmal nahm Yan einen beißenden Geruch wahr. Alle erinnerten sich an Hulsidors Warnungen und zuckten zusammen. Mit dem Kreischen einer Fledermaus stürzte sich der Geist auf Lana, die als Einzige keine Waffe trug. Rey bohrte sein Rapier in die Gestalt, bevor sie ihr Opfer erreichte, erlitt aber selbst schwere Kratzwunden am Arm.
Fauchend ballte sich der Geist im Treppenhaus hinter
ihnen wieder zusammen. Er war nicht hungrig genug, um sich mit so vielen Schwertern anzulegen. Wie eine Kaulquappe, die in den Schlick zurückkehrt, schwebte er in die tiefer gelegenen Stockwerke hinab.
»Sie nehmen körperliche Gestalt an, wenn sie angreifen«, flüsterte Grigán. »Das macht sie verwundbar … So können wir sie abwehren.«
»Und Ihr wollt hier in aller Ruhe recherchieren?«, wetterte der Bibliothekar, der immer noch kreidebleich war. »Das war ein Krallentöter. So wird diese Art genannt, seit einer von ihnen einen Kollegen aus dem fünfzehnten Stock zerfleischt hat. Es ist das erste Mal, dass sie bis in mein Stockwerk vordringen.«
Rey schob seinen blutgetränkten Ärmel in die Höhe und pfiff bewundernd. Sechs Krallen hatten sich vom Ellbogen bis zum Handgelenk in seine Haut gegraben. Grigán untersuchte die Wunde und befand sie für ungefährlich, was Lana mit Erleichterung hörte. Sie fühlte sich schuldig und bestand darauf, Rey einen Verband anzulegen. Der Verletzte ließ sich nur zu gerne umsorgen.
Yan und Corenn begannen das Stockwerk zu erkunden. Abgesehen von einigen Lücken, die sie den Streichen der Bücherbolde verdankten, waren die Regale sorgfältig aufgeräumt und sortiert, jedes Buch stand an seinem Platz, und weit und breit war kein Staubkorn in Sicht. Nur einige Bücherstapel, die bis an die Decke reichten und damit eine Reihe unzugänglicher, düsterer Winkel in dem Labyrinth schufen, störten die makellose Ordnung. Yan rechnete damit, jederzeit wieder einem Geist gegenüberzustehen. Nun zog er doch lieber sein Schwert.
»Es muss Jahrhunderte gedauert haben, alle diese Bücher anzusammeln«, sagte er.
»Da habt Ihr ganz recht«, entgegnete Hulsidor. »Einer Regel zufolge musste jeder, der die altehrwürdige Bibliothek aufsuchen wollte, mindestens ein Werk spenden, das noch nicht zu ihrem Bestand gehörte. In den letzten Jahren ihres Bestehens war das kaum noch möglich.«
»Dann muss es so etwas wie eine Kartei geben«, sagte Corenn hoffnungsvoll. »Eine einigermaßen vollständige Liste.«
»Das Register«, bestätigte Hulsidor herablassend. »Das haben die Bücherbolde längst gestohlen. Lange, bevor mich Sapone verpflichtet hat. Was genau sucht Ihr denn eigentlich?«
»Auskünfte über einen Ort namens Jal’karu. Sagt Euch das etwas?«
»Nein. Aber in meinem Stockwerk befinden sich auch hauptsächlich Abhandlungen über das Geldwesen und den Handel. Nur deswegen hat Sapone es gekauft.«
»Ja, das hatte ich befürchtet«, seufzte Corenn. »Hier werden wir nichts finden. Wir müssen noch tiefer hinunter.«
»Ihr habt den Verstand verloren! Oder Ihr seid völlig lebensmüde!«, entsetzte sich Hulsidor. »Ihr geht in den sicheren Tod!«
»Dame Corenn ist Mitglied des Ständigen Rats von Kaul«, herrschte ihn Grigán an, der das nicht durchgehen lassen konnte. »Ich rate Euch, ihr mit dem gebührenden Respekt zu begegnen.«
Der
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