Götter der Nacht
einige Übungen«, fuhr Corenn fort. »Einige Kniffe. Etwas Fasten kann helfen, bestimmte Konzentrationstechniken … Ich hatte vor, dich darin zu unterweisen, nachdem wir die Theorie durchgenommen haben. Aber in Anbetracht deiner Fortschritte kommt mir das jetzt geradezu lächerlich vor. Immerhin hast du bereits das innerste Wesen gesehen!«
»Ich finde nicht, dass ich schon so viel kann«, sagte Yan ganz ernsthaft. »Im Gegenteil. Mir gelingt überhaupt nichts«, fügte er schmollend hinzu.
»Selbst ein König kennt Sorgen«, zitierte Corenn schmunzelnd. »Da dir die Konzentration keine Schwierigkeiten bereitet, ist es jetzt wohl an der Zeit, dir beizubringen, wie du die Kraft nicht aus deinem Körper, sondern aus einer anderen Quelle schöpfen kannst. Wenn dich die Reglosigkeit weniger stark trifft, müsstest du deine Kräfte besser steuern können.«
»Aber habt Ihr nicht gesagt, dass diese Technik ziemlich gefährlich ist?«
»Natürlich. Alle magischen Techniken sind gefährlich, Yan. Deswegen bringt man sie Dummköpfen nicht bei.«
»Ein Grund mehr, mich da rauszuhalten«, scherzte Bowbaq, der den Wagen lenkte.
Während sie alle herzlich lachten, fiel Corenn wieder ein, was sie vor kurzem entdeckt hatten. Erjaks waren Magier, ohne sich dessen bewusst zu sein. Doch wenn man sie auf ihre magischen Kräfte aufmerksam machte, würde gewiss die Hälfte von ihnen innerhalb weniger Monde sterben. Besser, die Erben behielten dieses Geheimnis für sich.
Umgekehrt war jeder Magier auch ein besonders mächtiger Erjak, wenn er wie Yan in der Lage war, das innerste Wesen zu sehen. Während ein Erjak aber rein intuitiv handelte, ohne sich seine Gabe erklären zu können, brächte ein Magier dieses Wissen sofort mit der Disziplin des Windes in Verbindung. Die Vorstellung, dass ihre Kollegen nach Belieben in die Seelen und Gedanken armer Versuchsobjekte eintauchen könnten, ließ Corenn erschauern. Auch deshalb hielt sie es für klüger, nichts darüber zu sagen.
Amüsiert dachte sie, dass diese Entdeckung womöglich schon Dutzende Male gemacht und stets aus den gleichen Gründen verschwiegen worden war. So währte das Geheimnis seit Jahrhunderten …
Wie viele solcher Geheimnisse waren wohl in den uralten Zauberbüchern, den Tempeln von einst, den längst vergessenen Ruinen der bekannten Welt verborgen? Corenn hatte schon immer an das Übernatürliche geglaubt, denn dessen Existenz, so unerklärlich sie auch sein mochte, war nicht zu leugnen. Doch nun hatten sie es mit etwas zu tun, das ihr Verständnis überstieg. Die Welt der Unsterblichen, die Kinderstube der Götter … So viele Fragen, auf die sie noch keine Antwort wussten.
»Wie funktioniert diese Technik denn nun?«, fragte Yan und riss Corenn damit ungewollt aus ihren Gedanken.
Sie brauchte nur einen kurzen Augenblick, um sich wieder auf das Gespräch zu besinnen. »Mit innerer Sammlung. Man muss sehr ruhig werden, um aus einem anderen Körper Kraft zu schöpfen, sie zu bündeln und auf ein anderes Objekt zu richten. Kurz gesagt ist es dreimal so schwierig wie ein normaler Willensakt. Aber so kann man die Reglosigkeit vermeiden.«
»Und was ist daran so gefährlich?«
»Wer über so viel Macht verfügt, dem steigt sie schnell zu Kopf. Das passiert selbst den Besonnensten. Man neigt immer dazu, zu viel Kraft anzusammeln, weil sie unerschöpflich scheint. Aber das ist sie nicht. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem der Hilfsgegenstand zerbricht. Dann überfällt dich eine doppelt so heftige Reglosigkeit.«
Yan schluckte heftig. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie sich ein solcher Rückschlag auswirkte. Er würde zu einem grausamen und qualvollen Tod führen.
All das beflügelte ihn und machte ihm gleichzeitig Angst, wie alles, was mit Magie zu tun hatte. Wie dieses ganze Abenteuer.
Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und rückte endlich
mit der Frage heraus, die ihn dazu bewogen hatte, das Thema überhaupt zur Sprache zu bringen. »Bowbaq kann mir zeigen, was ein Erjak macht«, druckste er herum. »Ich bin neugierig, was … Wenn Ihr einverstanden seid … Ich meine, wenn Ihr nichts dagegen habt …«
»Warum willst du die Fähigkeiten eines Erjak lernen?«, fragte Corenn ernst.
Yan ließ seinen Blick über die Landschaft schweifen, bis hin zu Léti, die neben Grigán ritt. Er sah ihr eine Weile hinterher. »Um zu wissen«, sagte er schließlich. »Ich bin neugierig, was Bowbaq erlebt, wenn er mit seinem Löwen ›spricht‹. Ihr
Weitere Kostenlose Bücher