Götter der Nacht
unseren Vorfahren. Dieser Aufenthalt hat ihm zu großer Macht verholfen, mit der er Dämonen beherrschen kann, vielleicht auch noch andere Wesen, die wir uns nicht einmal vorzustellen vermögen.«
Obwohl niemand sie unterbrach, legte Corenn eine Kunstpause ein. Sie konnte nicht umhin, ihr rhetorisches Geschick einzusetzen, selbst wenn ihr die Zuhörer schon längst an den Lippen hingen.
»Saat ist gewiss der mächtigste unter den Menschen«, fuhr sie fort. »Falls man ihn überhaupt noch als Mensch bezeichnen kann. Und er hat eindeutig finstere Absichten. Deswegen sind wir in eine Geschichte verwickelt, die nicht nur uns angeht. Saat hält vielleicht das Schicksal von Tausenden in der Hand. Und diese Macht wird er nutzen.«
»Wie denn?«, fragte Léti. »Und warum?«
»Das weiß ich nicht. Vielleicht aus demselben Grund, aus dem er die Erben ermorden lässt.«
»Verzeiht die Bemerkung, Dame Corenn«, warf Rey ein. »Das Wörtchen ›vielleicht‹ gebraucht Ihr recht oft.«
»Vielleicht seid Ihr ja schlauer als wir?«, spottete Grigán. »Könnt Ihr das Rätsel für uns lösen?«
»Fassen wir zusammen, was wir sicher wissen«, sagte Corenn gelassen. »Ich nehme an, dass niemand Usuls Antworten infrage stellt? Also handelt es sich bei unserem Feind um Saat den Ökonom, Gesandter des Großen Kaiserreichs, der im vergangenen Jahrhundert auf die Insel Ji gereist ist. Er ist immer noch am Leben, so unwahrscheinlich das auch sein mag. Außerdem führen alle Pforten an ein und denselben Ort, das sogenannte Jal’karu oder Jal’dara, das nach Aussage der Schrift aus dem Tiefen Turm, die Lana für uns gedeutet hat, eine Art ›Kinderstube‹ der Götter ist, auch wenn das unglaublich klingt. Wir wissen auch, dass Saat die Ermordung der Erben in Auftrag gegeben hat. Dabei gibt es keinen erkennbaren Grund, sie zu hassen - uns zu hassen. Aus seinen böswilligen Absichten lässt sich schließen, dass er uns fürchtet. Nun müssen wir uns fragen: Was hat er vor? Und was können wir dagegen tun?«
Darauf wusste niemand eine Antwort. Corenn hatte ausgesprochen, was alle insgeheim befürchtet hatten. Zwar sahen sie jetzt klarer, aber ihre Lage erschien ihnen ebenso ausweglos wie zuvor.
Yan dachte an Usuls Prophezeiung: Die Oberen Königreiche würden schon bald einen blutigen Krieg verlieren. Das war keine bloße Vermutung. Es war die Zukunft, preisgegeben von einem Gott. Andererseits veränderte sich die Zukunft, sobald einer der Beteiligten davon erfuhr. Konnte er wirklich den Lauf der Geschichte beeinflussen und einen Krieg verhindern, dessen Ursache ihm noch unbekannt war? Wie er das anstellen sollte, war ihm ein Rätsel.
Genauso wenig wusste er, wie er mit den anderen über seine Sorgen sprechen sollte. Dann müsste er auch das Schicksal erwähnen, das Grigán drohte, und das wollte er auf keinen Fall.
»Einen Teil der Antwort kennen wir bereits«, sagte Lana. »Wie Ihr richtig bemerkt habt, Corenn, lässt Saat die Kinder der Erben ermorden, die nach der Rückkehr der Weisen geboren wurden.« Die Priesterin wusste nicht, wie sie fortfahren sollte. Sie hatte eine Theorie formulieren wollen, aber ihr kamen einfach zu viele Möglichkeiten in den Sinn.
»Da komme ich nicht mit«, sagte Bowbaq. »Was hat das nun wieder zu bedeuten?«
»Es bedeutet, dass Saat Angst vor uns hat«, erwiderte Rey grimmig. »Wir wissen nur nicht, warum.«
»Unsere Vorfahren wussten es bestimmt«, sagte Grigán. »Vielleicht erwähnt Maz Achem es in seinem Tagebuch.«
»Vielleicht aber auch nicht.«
»Das werden wir erst in Ith herausfinden«, sagte Corenn mit Bedauern.
Yan fühlte sich schrecklich. Er war der Einzige, der mehr wusste. Doch was hatte es für einen Sinn, seinen Freunden noch mehr Sorgen aufzubürden?
Sie mussten sich in Geduld fassen und so schnell wie möglich in die Heilige Stadt gelangen. In der Hoffnung, dass sich ihnen nichts in den Weg stellte. In der Hoffnung, dass sich das Tagebuch noch an seinem Platz befand. Und dass sein Inhalt ihnen weiterhelfen würde.
Es war ein Wettlauf gegen die Zeit.
Cavale war etwas kleiner und auch jünger als Rey, aber ebenso geschwätzig und wie alle Lorelier sehr von sich eingenommen. Er trat als Jongleur auf und hatte Reyan kennengelernt, als der Schauspieler die schwierige Kunst des Messerwerfens ausgeübt hatte.
In diesem Zusammenhang fiel Cavale eine Begebenheit
ein, die sehr erheiternd gewesen sein musste, denn er schüttelte sich vor Lachen, als er erzählen
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