Götter der Nacht
Goran und am Ufer des Alt entlang bis zur Heiligen Stadt reiten. Per Schiff hätte die Reise fast drei Dekaden gedauert, wenn man Havarien, Unwetter und andere unvorhersehbare Zwischenfälle nicht mitrechnete. Zu Pferd hoffte Grigán die Stadt in weniger als zwanzig Tagen erreichen zu können.
Da ihnen keine Zeit blieb, einen Käufer für die Othenor zu suchen, beschlossen sie, das Schiff auf der Urae zurückzulassen, nachdem sie ihre wenigen noch verbliebenen
Habseligkeiten zusammengepackt hatten. Als Yan sein Schwert, seine lorelische Kleidung und die juneische Kniehose betrachtete, erinnerte er sich lächelnd an die Harpune und die Angelschnur, die er bei seinem Aufbruch aus Eza mitgenommen hatte. Fünf Dekaden war das nun her. Es kam ihm vor wie ein Jahrhundert. Was seither alles passiert war!
Es war ausgemacht, dass sie sich auf der ersten Etappe ihrer Reise, dem Weg nach Le Pont, einer Gruppe fahrender Gaukler anschließen würden. Die Erben boten den Gauklern Geleitschutz und gewannen im Gegenzug eine Tarnung, ganz zu schweigen von dem Vorteil des freien Wegezolls, den der lorelische König der fahrenden Zunft gewährte. Das würde sich im Fürstentum Semilia und beim Überqueren der Königsbrücke als nützlich erweisen.
So mussten sich die Erben Pferde und Wagen zulegen. Schließlich entschieden sie sich für zwei Fuhrwerke, die groß genug waren, um ihnen bei schlechtem Wetter, das in den Nebelbergen häufig herrschte, Unterschlupf zu bieten. Lana, Yan, Bowbaq und Rey waren froh über die Anschaffung. Im Vergleich zu Grigán oder Corenn waren sie keine guten Reiter, und die Aussicht auf zwei Dekaden im Sattel begeisterte sie nicht besonders. Trotzdem schlug die Ratsfrau vor, für jeden ein Pferd zu kaufen.
Mit dem Geld aus der Schatulle, die sie aus dem Kleinen Palast in Lorelia gestohlen hatten, legten sie sich neues Reisegepäck zu, da ihre Ausrüstung im Tiefen Turm verbrannt war. Vor allem besorgten sie natürlich Lebensmittel und Trinkwasser, aber auch Kerzen, Feuersteine, Decken und warme Kleidung. Wer hätte zu Beginn ihrer Reise gedacht, dass sie in der kalten Jahreszeit immer noch unterwegs sein würden?
Bestens ausgestattet begaben sie sich zu den Gauklern, die sich nicht im Geringsten über das bunte Häuflein der Erben wunderten und ihnen eher abweisend begegneten. Nur Reys Bekannter, ein lorelischer Jongleur mit dem seltsamen Namen Cavale, schenkte ihnen etwas Aufmerksamkeit. So fiel die Begrüßung kurz und nüchtern aus: Die rund fünfzehn Artisten, vorwiegend Rominer, bedachten die Neuankömmlinge nur mit einem flüchtigen Blick.
Den Erben war es ohnehin lieber, in ihrer letzten Nacht in Romin unter sich zu bleiben. Sie hatten viel auf dem Herzen. Ohne sich absprechen zu müssen, fanden sie sich zu einer gemeinsamen Beratung im größeren der beiden Wagen ein.
Bevor er sich zu seinen Gefährten gesellte, machte Grigán einen Rundgang. Der kleine Platz, auf dem die Gaukler ihr Lager aufgeschlagen hatten, lag still und verlassen da, ein einsamer Winkel in einem schäbigen Viertel. Cavale und die anderen waren in eine belebtere Straße gezogen, um ihre letzte Vorstellung in der Hauptstadt zu geben. Yan hätte gern gewusst, was sie dem Publikum boten. Ein andermal würde er sich die Aufführung sicher ansehen können.
Während sie zu Abend aßen, mieden die Erben zunächst das Thema, das sie alle beschäftigte. Als könnte die bloße Erwähnung von Göttern, Dämonen oder gar Geistern eines dieser Wesen aus dem Nebel heraufbeschwören, der sich wie in der Nacht zuvor über die Stadt gelegt hatte. Doch Rey sorgte mit seinen Scherzen dafür, dass sich die Anspannung allmählich löste und sie sich ernsteren Problemen zuwenden konnten. Sehr ernsten: Saat und den Pforten des Jal’dara.
»Wir haben es mit etwas zu tun«, sagte Corenn halblaut, »das über unser eigenes kleines Schicksal hinausgeht.«
Die anderen hörten aufmerksam zu. Corenn tauchte aus ihren Gedanken auf und bemerkte, dass alle Blicke auf sie gerichtet waren. Ihre Freunde warteten darauf, von ihr zu erfahren, was die Erkenntnisse der vergangenen Nacht zu bedeuten hatten, vielleicht sogar, was nun zu tun sei. Daher bemühte sich Corenn, etwas Licht ins Dunkel zu bringen.
»Unser Feind ist kein gewöhnlicher Sterblicher«, begann sie. »Auf übernatürliche Weise lebt er seit mehr als einem Jahrhundert fort. Er kennt den Ort, an dem die Götter heranwachsen. Man kann davon ausgehen, dass er selbst dort war, gemeinsam mit
Weitere Kostenlose Bücher