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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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erzählen würde, du wärst ein Verbrecher, würdest du dann wollen, dass sie es sofort glauben, ohne dir eine Chance zu geben, dich zu rechtfertigen?«
    Der Hieb saß, umso mehr, als sie überhaupt nicht beabsichtigt hatte, seinen wunden Punkt zu treffen. Eine ernste Frage, kein rhetorisches Manöver. Er zwang die Worte aus sich heraus, versuchte, nicht darüber nachzugrübeln, wie Julie und Ben wirklich über ihn dachten.
    »Dein Vater hat Glück.«
    Sie überraschte ihn erneut, als sie aufstand, sich zu ihm beugte und ihn auf die Wange küsste, ein kurzer, leichter Kuss, der bereits vorbei war, ehe er sich bewusst wurde, was sie tat.
    »Ich auch«, erwiderte sie schlicht. »Ich habe Glück, einen Freund wie dich zu haben.«
    Er lauschte immer noch dem Echo ihrer Stimme nach, als er sie längst wieder zurückgebracht hatte und den Leihwagen hinter seinem Motel parkte. Freund. Als er in ihrem Alter gewesen war, hätte ihn die Bezeichnung entweder gekränkt oder belustigt. Doch mit Anfang zwanzig hätte er auch genau gewusst, was er von ihr wollte, und inzwischen wusste er es längst nicht mehr.
    Erst ein plötzlicher Aufprall holte ihn in die Gegenwart zurück. »He, können Sie nicht aufpassen?«, fragte der weißhaarige Mann, mit dem er im Eingang des Motels zusammengestoßen war. Da Neil bis auf Victor Sanchez in Alaska vorwiegend jüngere Leute gesehen hatte, was den Staat zum völligen Gegenpol von Florida machte, stachen die zerfurchten Gesichtszüge und die leicht gebückte Körperhaltung genügend hervor, um im Zusammenhang mit seiner Geistesabwesenheit ein leichtes Schuldbewusstsein auszulösen.
    »Tut mir Leid«, murmelte er.
    »Mir auch«, sagte der alte Herr und verschwand in Richtung Parkplatz.
     
    * * *
     
    Beatrice war noch nie in ihrem Leben so unglücklich und glücklich zur gleichen Zeit gewesen. Ihre Drohung, nicht mehr mit ihrem Vater zu sprechen, bis er sich erklärte, konnte sie nach dem Gespräch mit Neil nicht mehr aufrechterhalten. Die Erklärung zu erhalten war wichtiger und dringender als ihr Stolz. Am nächsten Morgen ging sie zu ihm. Sie hatte kaum geschlafen, und dennoch spürte sie keine Müdigkeit; es gab zu viel, das sie bewegte.
    Ihr Vater öffnete auf ihr Klopfen nicht. Sie besaß eine Codekarte für seine Wohnung, aber es konnte sehr wohl sein, dass er bereits früher als üblich ins Labor gegangen war, also machte sie sich auf den Weg dorthin. Bei der Sicherheitskontrolle zwischen den Wohnblöcken und dem Labor musste sie sich zwingen, höflich auf die fröhlichen »Früh dran« etwas zu entgegnen, statt einfach weiterzueilen. Sie kam sich vor, als sei sie von innen ausgehöhlt, wie eine Puppe, die keinen Kern mehr hatte und nur auf Antworten wartete, um wieder vollständig sein zu können.
    Nina, die russischstämmige Assistentin ihres Vaters, war noch nicht da, aber in seinem fensterlosen Büro brannte Licht, das sie durch den Türspalt dringen sah. Sie holte tief Luft und trat ein.
    Am Schreibtisch ihres Vaters, gerade damit beschäftigt, eines der Familienfotos zu studieren, die dort standen, saß Mears.
    »Was tust denn du hier?«, fragte Beatrice und verzichtete auf alle höflichen Präliminarien.
    »Das sollte doch offensichtlich sein. Du hast schließlich Augen im Kopf.«
    »Ich meine«, präzisierte sie zähneknirschend, »was tust du in Dads Büro?«
    »Oh, das habe ich auch gemeint. Dachtest du, ich beziehe mich auf etwas anderes?«
    Sie entschied, dass sie keine Zeit für solche Spielchen hatte, und drehte sich wortlos um. Auf ihren Vater konnte sie auch anderswo warten.
    »Er wird so schnell nicht wiederkommen«, sagte Mears, ehe sie die Tür hinter sich schließen konnte. Widerwillig wandte sie sich ihm erneut zu.
    »Wie meinst du das?«
    Mears lehnte sich im Bürostuhl ihres Vaters zurück, beide Arme auf die Lehnen gelegt und ein Lächeln auf den Lippen. Es erinnerte sie an den Tag, an dem er ihr die Mitarbeit angeboten hatte; sehr, sehr siegessicher.
    »Wie es scheint«, sagte Mears, und sie spürte, dass er jedes Wort genoss, »hat Mr. President ihn zu sich beordert, um ein paar Erklärungen zu bekommen. Du bist nicht die Einzige, die Fragen an ihn hat, nur bezweifle ich, dass Mr. President die gleichen stellen wird. Ich möchte wetten, ihn interessiert viel mehr, warum dein Vater sich mit einem berüchtigten Journalisten getroffen hat, ohne das in irgendeinem seiner Berichte zu erwähnen, und das zu einem Zeitpunkt, an dem Livion wirklich keine schlechte

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