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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Aber dein Vater führt hier ein ziemlich obskures Dasein. Hast du dich schon einmal gefragt, wie du zur Welt gekommen sein musst, wie es nach der Genmanipulation weiterging? Deine Mutter konnte nicht schwanger werden. Also, wer war die Leihmutter, und was wurde dann aus ihr?«
    »Ich… ich glaube«, sagte sie, und die Worte fühlten sich dürr und tot auf ihren Lippen an, »… ich bin vollständig in vitro ausgetragen worden, nicht in vivo.«
    An diese Möglichkeit hatte er nicht gedacht. Überhaupt keine Leihmutter, sondern eine künstliche Umgebung die ganzen neun Monate lang. Schweigen senkte sich zwischen sie, während er an das Kind dachte, das Beatrice gewesen sein musste.
    »Ist das denn machbar? Ich dachte, bei einer künstlichen Befruchtung könnten Föten im Reagenzglas nur in einem sehr frühen Stadium am Leben erhalten werden, bis man sie der Mutter oder Leihmutter einsetzt.«
    »Mit Tieren ist es bereits gelungen«, sagte sie und dachte daran, wie faszinierend sie das gefunden hatte. Simulierter Herzschlag der Mutter für den Embryo. War es das gewesen? Hatte sie selbst jene ersten neun Monate in einem Kunstgebilde verbracht? Sie selbst hatte an eine Leihmutter glauben wollen, bis sie ein paar Berechnungen anstellte. Um ein solches erfolgreiches genetisches Experiment durchzuführen, mussten Hunderte von erfolglosen Versuchen vorangegangen sein, und so großzügig das Labor auch angelegt war, hätte man doch nie genügend Frauen dort unterbringen können. Doch es gab Einrichtungen, um kleine Säugetiere in vitro zu züchten. Kaninchen, das hatte sie immer geglaubt, weil sie nie etwas anderes gesehen hatte. Kaninchen.
    »Tut mir Leid«, sagte Neil, der sie beobachtete, wenn er nicht auf die Straße schaute. »Ich wollte dir keine Angst machen. Ich wollte dir etwas zeigen, das uns an die Schönheit erinnert, die diese Welt noch zu bieten hat, nun, da du sie für dich selbst entdecken kannst.«
    Als sie mit ihm auf einer Fähre stand, die sich inmitten von Eisbrocken den Weg zum Portage-Gletscher bahnte, verstand sie, was er gemeint hatte. Außer ihnen waren, da es trotz aller Helligkeit schon Abend war, nur noch wenige andere Touristen an Bord, aber jedem verschlug es die Sprache, als sie zu dem alten Eis hinüberblickten. Es sah wie ein riesiges, zusammengestürztes Mikado-Spiel aus Kandiszucker aus, nur längst nicht so regelmäßig. Nicht weiß, sondern blau und bräunlich an den Rändern, ein wenig wie der alte Schnee im Frühling. Es war schon da gewesen, als die Menschen erst begannen, aufrecht zu gehen, und würde noch da sein, wenn jeder Einzelne in diesem Boot tot war. Sie zitterte und merkte jetzt erst, dass die übrigen Passagiere dicke Anoraks trugen. Neil zog seine Jacke aus und legte sie ihr wortlos um die Schultern.
    Die Sonne fing sich in dem Blau, das nichts von den Neonfarben hatte, die Beatrice aus dem Labor kannte, und der Kapitän erklärte über Lautsprecher, das Eis kristallisiere alle Farben des Regenbogens, doch Blau sei das einzige Farbspektrum, das vom menschlichen Auge in dieser Form wahrgenommen werden konnte.
    »Vielleicht auch nicht«, sagte Beatrice halblaut. »Die Inuit haben dreizehn verschiedene Worte für Schnee, glaube ich. Vielleicht können sie auch ein etwas weiteres Spektrum wahrnehmen.«
    »Inuit?«
    »Die Eskimos. Frank hat mir das einmal erzählt, und er ist zu einem Viertel Inuit. Er sagt, sie nennen ihre Sprache Inupiaq, was eigentlich ›ein wirklicher Mensch‹ heißt.«
    Verspätet fiel ihr ein, dass er nicht wissen konnte, wer Frank war. Es war verwirrend, mit jemandem zu reden, der einerseits zu ihren Freunden zählte und andererseits niemanden aus der abgezirkelten Welt kannte, in der sie aufgewachsen war. Fast kam es ihr vor wie das Lernen einer neuen Sprache; vertraute Vergleiche, wie »peinlich wie Megans Ausrutscher bei der Weihnachtsfeier vor drei Jahren« oder »so gut wie eine P4-Analyse«, mussten in andere Begriffe übersetzt oder erläutert werden. Und dann gab es wieder Momente, in denen er sie ohne Worte besser zu verstehen schien als die Menschen, mit denen sie täglich Umgang hatte.
    Sie schaute zu dem Gletscher in seiner umfassenden Erhabenheit, und war froh, dass es in dieser Welt voller zerstörter Gewissheiten etwas gab, das sich nicht verändern würde. Ihre Hand stahl sich auf Neils, und er erwiderte ihren Druck.
    Der Einfall, der ihr in diesem Moment kam, während sie auf den Gletscher starrte und Neils Hand in der ihren spürte,

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