Götterdämmerung
wenn es zu einem Unfall kommen würde.
Aber genauso gut konnten sie einen Autounfall haben. Endgültige Sicherheiten gab es nie, und das Ganze war ein Abenteuer, ehe die Wirklichkeit wieder ihre sterilen Klauen um sie schloss.
Sie besichtigten die Boote nicht allein; mit ihnen waren zwei Flitterwöchner aus Illinois unterwegs, die von den großen Seen erzählten, wo sie ihre seemännischen Erfahrungen gesammelt hatten.
»Eigentlich wollten wir ja nach Europa«, sagte die Frau, die in Beatrices Alter war, »aber Flugreisen über den Atlantik sind immer noch zu risikoreich, und warum sich alte Trümmer ansehen, wenn es so viel Schönes in unserem Land gibt? Wir fahren nach Norden und wollen uns die Grizzlys auf Kodiak anschauen.«
»Warum haben Sie sich für Alaska entschieden?«, fragte der Mann Beatrice.
»Ich lebe hier.«
»Aber dann ist das alles ja alltäglich für Sie!«
»Nein«, sagte Beatrice und schüttelte den Kopf, während sie an Deck kletterten. Sie spürte die Brise mit ihrem Salzgeruch und lächelte. »Nein. Es ist immer wieder ein Wunder.«
Als das andere Paar sich für das Boot entschieden hatte, auf dem sie sich gerade befanden, und sich bei dem Vermieter nach Proviant und Dieselvorräten erkundigte, trat Neil zu ihr und flüsterte bestimmt: »Gib mir dein Handy.«
Sie hob sich ihre Fragen für später auf.
»Welches Boot hat dir denn am besten gefallen?«
»Auf die Gefahr hin, idiotisch oder naiv zu klingen - sie sind alle schön. Obwohl ich das mit den grünen Türen nicht mag. Die erinnern mich an unsere Sicherheitszone. Welches ist dein Favorit, Experte?«
»Das vorletzte«, sagte er aufgeräumt, »obwohl es Ariel heißt, aber wenn du nicht abergläubisch bist…«
Sie hob eine Augenbraue.
»Shelley.«
Beatrice machte immer noch ein ratloses Gesicht.
»Ich dachte, Sylvia Plath«, meinte sie, »aber der Zusammenhang zu Booten ist mir nicht ganz klar.«
»Verliere ich Punkte, wenn ich zugebe, dass ich Sylvia Plath nie gelesen habe? Ariel hieß das Boot, in dem Shelley in der Bucht von La Spezia kenterte.«
»Dann muss man den Namen rehabilitieren«, sagte Beatrice und stellte fest, dass sein Lächeln sehr ansteckend war.
Es stellte sich heraus, dass die Ariel weder nach Shelleys Boot noch nach Plaths Gedichtband benannt war, ja, noch nicht einmal nach beider Vorbild, der Figur aus Shakespeares Sturm.
»Meine Tochter ist Disney-Fan«, erklärte der Bootsvermieter, während Neil von ihm die Karten erhielt. »Deswegen heißen die beiden anderen Schönheiten auch Belle und Megara.«
Beatrice, der die Disney-Filme der letzten zehn Jahre entgangen waren, verstand die Anspielung nicht, aber Neils Grimasse und die anschließenden Bemerkungen über Disney als die wahre herrschende Institution Amerikas amüsierten sie, während er die Sackleinentasche, die sie aus der Wohnung ihres Vaters geholt und hastig gepackt hatte, an Bord trug.
»Also ist es doch nicht die Pharmaindustrie?«, zog sie ihn auf. »Oder die Waffenlobby oder die Ölindustrie oder die Atomindustrie? Du bist ganz schön inkonsequent.«
»Bin ich nicht«, gab er zurück. »Disney steckt hinter allem.«
Die Mischung aus Heiterkeit, Aufregung und Abenteuer, die sie erfüllte und ihre Nervosität immer weiter zurückdrängte, erhielt erst eine dunklere Färbung, als sie ihre Sachen ausgepackt hatte und ihn fragte, was er mit ihrem Handy gewollt habe.
»Ich habe es bei dem Pärchen aus Illinois gelassen«, sagte er, und der starre Ausdruck in seinen Augen verriet ihr, dass er nicht mehr scherzte, »zusammen mit meinem.«
Sämtliche Psychothriller über das Eingesperrtsein mit einem Psychopathen schossen ihr auf einmal durch den Kopf. Gleichzeitig war sie sich bewusst, dass sie sich immer noch im Hafen von Seward befanden und sie jederzeit zurück an Land gehen konnte. Wenn Neil ihr eine Falle stellen wollte, hätte er ihr etwas vorgelogen. Entweder sie vertraute ihm, oder sie vertraute ihm nicht.
»Weil…?«, begann sie auffordernd.
»Weil irgendjemand vor ein paar Tagen mein Handy geklaut und gegen eine nahezu perfekte Kopie ausgetauscht hat. Weil man mich oder uns beide über GPS orten kann. Weil ich Alaska kennen lernen möchte, ohne ständig das Gefühl zu haben, beobachtet zu werden.«
»Paranoia, dein Name ist Neil«, sagte Beatrice, aber sie wusste nur zu genau, dass diese Vorsichtsmaßnahme berechtigt sein konnte. Sie hatte ihr Urlaubsgesuch in den Briefkasten geworfen, weil niemand am Sonntag arbeitete,
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