Götterdämmerung
war verrückt, aber was, dachte sie, was war an ihrem Leben in der letzten Zeit normal?
»Neil«, sagte sie plötzlich, »wenn ich mir nun Urlaub nehmen würde. Zehn Tage oder zwei Wochen lang. Und dann einfach losziehen, um Alaska zu erkunden. Würdest du mitkommen?«
Sie sagte nicht, dass sie mit ihrer Unerfahrenheit im Reisen einen Begleiter mehr als gut gebrauchen könnte. Sie sprach nicht von dem Vertrauensbeweis, den ihre Bitte darstellte. Wenn sie sich in ihm irrte, dann hatte sie eben die dümmste Frage ihres Lebens geäußert. Aber die Vorstellung, im Labor weiter auf die Rückkehr ihres Vaters zu warten, weiter auf Mears angewiesen zu sein und sich immer nur ein paar Stunden fortzustehlen, erschien ihr auf einmal unerträglich.
»Das würde ich«, sagte er, und in seiner Stimme lag Überraschung, Freude und Unruhe zugleich.
Ein Boot zu chartern, dachte Neil, war sicher das Beste. Es war zwar eine Weile her, doch der Umgang mit Wind und Wasser lag ihm noch von früher im Blut, und er ignorierte den Stich, den ihm sein Gewissen versetzte, als ihm das Versprechen einfiel, das er Ben gegeben hatte. Er würde es erfüllen, im Spätsommer. Vielleicht im Frühherbst, wenn es in Louisiana nicht mehr ganz so heiß war.
Während er packte, fiel Neil ein, Beatrice daran zu erinnern, wasserdichte Kleidung mitzunehmen, und auf alle Fälle wärmere Sachen, als sie gewöhnlich trug. Er nahm sein Handy und drückte auf Wahlwiederholung. Zu seiner Überraschung meldete sich die Telefonauskunft. Neil runzelte die Stirn. Beatrices Nummer war mit Sicherheit die letzte gewesen, die er angerufen hatte, und mit der Auskunft hatte er während seines gesamten Aufenthalts in Alaska nicht gesprochen.
Das Gerät in seiner Hand erwärmte sich langsam. Er hatte Beatrices Nummer noch gar nicht eingespeichert, sondern aufgeschrieben, auf einen Zettel, der in seiner Brieftasche lag. Was Nummern anging, mochte er vergesslich sein, doch das gesprochene Wort blieb ihm in Erinnerung, manchmal bis hin zum genauen Tonfall in der Stimme seiner Gesprächspartner. Es mochte ein dummer Fehler sein… aber er wusste, dass er nicht mit der Auskunft gesprochen hatte.
Er ging die letzten fünf Nummern durch, die das Gerät gewählt hatte, alles Nummern aus seinem persönlichen Telefonverzeichnis und daher unter den Namen der Gesprächspartner aufgeführt. Es waren die seines Agenten, Matts, Giles’ und eines Bostoner Bekannten. Bis auf Giles entsprach das nicht den Telefonaten, an die er sich erinnerte; im Gegenteil, er hatte absichtlich keinen Kontakt zu Charles Xavier oder Matt aufgenommen, seit er von Boston aus aufgebrochen war.
Etwas stimmte hier ganz und gar nicht.
Rasch überprüfte er die Nummern und Namen, die eingespeichert waren. Ob die Nummern alle passten, konnte er nicht sagen, aber die Namen waren richtig, so, wie sie Deirdre einst für ihn eingegeben hatte, bis hin zu der Abkürzung »D.Büro« für ihren eigenen Anschluss.
Der Verdacht, der in ihm aufstieg, hätte Matt zu einer spöttischen Bemerkung über seinen Verfolgungswahn veranlasst. Aber Neil erinnerte sich an den Zusammenprall mit dem alten Mann vor dem Motel und daran, was Beatrice über die Stichproben erzählte, die von Gesprächen der Labormitarbeiter gemacht wurden.
Er überlegte. Dann schrieb er sich alle eingespeicherten Nummern auf und löschte das Verzeichnis systematisch. Es lag etwas Befriedigendes darin, die wiederholte Bestätigung »gelöscht« zu lesen, während er sich einen Plan zurechtlegte.
Im Hafen von Seward schauten sie sich Motoryachten an. Es machte Spaß, obwohl Beatrice zugeben musste, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, nach welchen Kriterien sie ihr Boot auswählen sollte. Sie kletterte mit Neil von den Stegen auf Boote mit den unmöglichsten Namen, musterte fasziniert die Kabinen, die ihr viel kleiner vorkamen als alles, was sie im Fernsehen gesehen hatte, und stellte fest, dass es ein merkwürdiges Gefühl war, auf einmal Fachsimpeleien zuzuhören, an denen sie sich nicht beteiligen konnte. Sie wusste noch nicht einmal, ob backbord nun rechts oder links war.
Als Neil eine Bootsfahrt und nicht eine Reise mit dem Auto vorgeschlagen hatte, war ihr einen Moment lang unwohl gewesen. Das Meer in Alaska war so kalt, dass niemand einen Sturz ins Wasser lange überlebte, wenn er nicht volle Tauchermontur trug. Bisher immer nur eine bedeutungslose Statistik für sie. Schwimmen zu können, würde ihr nicht das Geringste nützen,
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