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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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und starrten neugierig zu ihnen herüber. Dann zuckten sie mit den Flossen, und Beatrice befürchtete, ihnen sei etwas geschehen. Neil machte den Motor aus und ließ das Boot näher herantreiben. Es stellte sich heraus, dass sie Muscheln in ihren Vorderpfoten hielten und Steine auf ihrem Bauch liegen hatten, um die Muscheln daran aufzuschlagen. In einem Zirkus hätte Neil das für einen Dressurakt gehalten; hier wünschte er sich, eine Videokamera mitgenommen zu haben. Nicht nur für die Seeotter, sondern auch Beatrices wegen, die sie mit der großäugigen Begeisterung eines in die Freiheit entlassenen Gefangenen beobachtete.
    Er wusste nicht, wie lange er sich nicht mehr so entspannt und glücklich gefühlt hatte. Die Schreie der Möwen, das Klatschen der Wellen gegen die Felsen, und er wünschte sich, den Moment festhalten zu können, ganz gleich wie.
    »Doch, du hast welche.« Er streckte die Hand aus und berührte mit der Fingerspitze ihren Nasenrücken. »Da.« Dann glitt seine Hand zu ihrer Nasenspitze. »Und hier.«
    Jede andere Frau, die er kannte, hätte eine unmissverständlich abwehrende Geste gemacht oder wäre näher gerückt und hätte zurückgeflirtet. Beatrice sah ihn nur an. Kein erschreckter oder kindlicher Blick; sie war kein Kind mehr. Ihr Gesicht war eine offene Frage, und er war sich nicht sicher, ob er die Antwort kannte.
    Die Steine, auf denen die Seeotter ihre Muscheln zerschlugen, rutschten, sobald die Muscheln geknackt waren, immer wieder ins Wasser, doch die Tiere tauchten sofort unter und kehrten sowohl mit Steinen als auch neuen Muscheln wieder an die Oberfläche zurück.
    »Sie geben nicht auf«, sagte Beatrice.
    »Ist Hartnäckigkeit für dich eine positive oder negative Eigenschaft?«, fragte er mit der gleichen Mischung aus Scherz und Ernst, die er seit Beginn dieser Reise angeschlagen hatte. Zu seiner Überraschung antwortete sie mit einem Shakespeare-Zitat.
    »Es gibt nichts Gutes oder Schlechtes; erst die Gedanken machen es dazu.«
     
    Nicht leicht, in einem Boot zu übernachten. Zwischen Wachen und Schlafen assoziierte sie anfangs einen sich bewegenden Boden instinktiv mit Erdbeben, wie sie in Alaska öfter vorkamen. Ihr Herz hämmerte jedes Mal in einem leichten Panikanfall, wenn sie von den Schlägen der Wellen aufwachte. Es war auch seltsam, auf so engem Raum mit einem anderen Menschen zu leben. Neil sah, dass sie sich nur schwer an das Boot gewöhnte; in Valdez nahmen sie daher Hotelzimmer, aber danach war es wieder das Boot. Sie stellte fest, dass man die Geräusche eines Menschen lernen konnte; die Atemzüge, das Räuspern, wenn er sich am Morgen dehnte und reckte, das missbilligende Schnalzen mit der Zunge, wenn ihm etwas nicht gefiel. Man konnte das Aussehen eines Menschen lernen. Die Art, wie die Sonne sich in seinen Armen fing, wenn die Luft sich gegen Mittag so weit aufgewärmt hatte, dass sie die Jacken ausziehen konnten. Die Art, wie sich sein Gesicht entspannte, wenn er die Seeotter beobachtete oder die Gletscher oder schlicht und einfach die See. Nur wenn er schlief, entspannte es sich niemals. Zuerst gelang ihm wesentlich schneller als ihr, einzuschlafen, und sie ertappte sich dabei, ab und zu zu ihm hinzuschauen. Statt gelöst und friedlich wirkte er gequält, wenn er schlief, als würden sich die wenigen Schatten der weißen Nächte in sein Gesicht einfressen.
    Tagsüber erschien Neil ihr jünger, glücklicher. Als er die ersten Wale entdeckte, war er so aufgeregt wie ein Kind. Diesmal hatten sie etwas gemeinsam; auch er kannte die graublauen Riesen bisher nur aus dem Fernsehen. Die Realität, die riesige Wellen bis an ihr Boot schlug, war atemberaubend. Der erste Wal, der mit nach oben gereckten Schwanzflossen abtauchte, befand sich noch in weiter Ferne. Die Glacier Bay bot in den Sommermonaten den Buckelwalen mit ihren Jungtieren Obdach, und je näher sie ihr kamen, desto häufiger tauchten die Wale auf, trieben fast unmittelbar neben ihrem Boot in die Höhe. Majestätische, schwarz glänzende Ovale, die rasch größer wurden und gegenständlich, fassbar auf eine Art, die kein Film je hatte vermitteln können. Beatrice hätte, wenn die Bootskante nicht so hoch gewesen wäre, die Rücken gestreichelt, die sich ihr entgegenhoben. Aber dann kam ihr der Gedanke fast blasphemisch vor; die Unberührtheit der Tiere hatte etwas Sakrosanktes.
    »Was hält sie eigentlich davon ab, direkt unter unserem Boot aufzutauchen?«
    »Nichts«, entgegnete Neil, der nicht im

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