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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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irgendwann noch schriftstellerisch verwerten, aber die nie richtig anfangenden Verhöre, bei denen er und zwei Staatsbeamte sich nach ihren Eingangsfragen gegenseitig anschwiegen, passten noch nicht mal in einen schlechten Krimi. Stattdessen hatte er reichlich Zeit, Sorgen nachzuhängen, die er ständig zu unterdrücken versuchte.
    Nach zwei Tagen tauchte immer noch kein Anwalt auf, aber der Mann, der diesmal im Verhörzimmer auf ihn wartete, gehörte eindeutig nicht zum Stammpersonal. Er stand zu gerade, um etwas anderes als ein Mitglied des Militärs zu sein, selbst wenn er hier keine Uniform trug. Neil hatte ein schwaches Gefühl von Dejá-vu; er meinte, den Mann zu erkennen, so, wie er Mears und vor ihm Sanchez erkannt hatte, nicht aufgrund einer persönlichen Begegnung, sondern aufgrund einer Fotografie. Doch sollte er ein Foto dieses mittelgroßen Mannes mit einem tief gebräunten Gesicht und grauen Augen schon einmal gesehen haben, dann konnte es nicht im Zusammenhang mit Sanchez oder Mears gewesen sein.
    »Das Posse-Comitatus-Gesetz untersagt dem Militär jeglichen Einsatz im Landesinneren«, bemerkte Neil sachlich, nachdem man ihn sich hatte setzen lassen.
    »Klugscheißer«, entgegnete der Mann ohne Hitze. Er stritt nicht ab, Soldat zu sein. »Das gilt schon seit dem Antiterrorgesetz 96 nicht mehr. Hören Sie, LaHaye, Sie stecken bis zum Hals in der Scheiße.«
    »Kennen wir uns?«, fragte Neil milde.
    »Nicht dass ich wüsste. Aber ich respektiere Sie. Ich habe Ihre Akte studiert. Zivilisten mit Orden gibt’s nicht häufig.«
    Neil verzichtete auf eine Entgegnung. Er hatte den starken Verdacht, dass hier einer mit ihm guter Cop/böser Cop spielen wollte und für sich die Rolle des Retters in der Not reserviert hatte, dem der verwirrte Gefangene am Ende alles anvertrauen würde.
    »Leute, die in Labors herumschnüffeln, in denen an Schutzstoffen gegen Bioterrorismus gearbeitet wird und die damit die nationale Sicherheit gefährden, sind zum Glück auch eher selten«, fuhr sein Gegenüber wesentlich schärfer fort.
    »Was für ein Jammer, dass ich nicht zu denen zähle«, sagte Neil ruhig. »Ich wollte schon immer mal einer Minderheit angehören.«
    Die Hand des Soldaten in Zivil begann, unruhig auf den Tisch zu klopfen.
    »Sie machen es mir echt nicht leicht, LaHaye.«
    »Das bedauere ich… Sir. Aber an Ihrer Stelle würde ich nicht mit den Fingern auf den Tisch trommeln, so etwas stört die Mikrophone bei der Aufnahme.«
    »Warum ich mich mit Ihnen abgebe, weiß ich nicht.«
    »Ich auch nicht, aber ich finde es sehr interessant. Dass Livion hier die örtliche Polizei in der Tasche hat, davon bin ich ausgegangen. Meinetwegen auch noch die Bundespolizei. Aber dass es noch höher geht, tja, das wusste ich nicht, bis Sie hier aufkreuzten… Sir.«
    Als der Mann sich zurücklehnte, sodass die Lampe in dem Verhörzimmer einen Schatten auf ihn warf, kehrte die Erinnerung, um die sich Neil die ganze Zeit bemühte, zurück. So hatte er diesen Soldaten schon einmal gesehen, im Schatten eines anderen, vor etwas mehr als einem Jahr. Die Nigeria-Anhörungen wären ein Thema für ihn gewesen, wenn nur nicht Deirdres Senator mit im Komitee gesessen hätte und seine Beziehung zu Deirdre nach der Scheidung sich noch einspielen musste. Sie hatte ihm damals noch nicht erlaubt, die Kinder in Boston zu sehen, also hatte er sie in Washington besucht, und an einem Abend, als er sie zurückbrachte, hatte er Deirdre schlafend über der Akte von Colonel West gefunden. Colonel Dodger West, Mitglied des Joint Special Operations Command, der es in Zeiten der Krise offenbar nicht für nötig hielt, den Kongress mit solchen Kleinigkeiten wie Liquidierungsoperationen im Ausland zu behelligen.
    Bei dem Mann in seinem Verhörzimmer handelte es sich nicht um Colonel West. Neil hätte West, der es bis zu einer Titelseite von TIME gebracht hatte, auf der Stelle wieder erkannt. West verbarg seine beträchtliche Intelligenz hinter einer knappen, einsilbigen Ausdrucksweise und vermittelte selbst dann den Eindruck unbedingter Aufrichtigkeit, wenn man sicher sein konnte, dass er log; Matt hatte ihn einmal charismatischer Zinnsoldat genannt, mehr Clint Eastwood als John Wayne, und West wurde von einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung als Held verehrt, der gewillt war, sich im Dienst seines Landes die Finger schmutzig zu machen. Zu Neils Bestürzung war Julie einmal mit einem Button aufgekreuzt, auf dem Wests Gesicht zu sehen und »Go West!«

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