Götterdämmerung
einige Zeit warten musste. Sobald man im Labor bemerkte, dass sie verschwunden war, würde man ihn umso intensiver überwachen; wohin sollte sie auch gehen, wenn nicht zu ihm? Also auch keine E-Mails an Neil von einem Internetcafe aus; wenn die Computerexperten der Firma oder der NSA ihre Manipulationen in Mears’ Datenbank bemerkt hatten, dann war das Rückverfolgen von Mails eine Kleinigkeit für sie, und niemand würde seine Zeit damit verschwenden, am Lake Hood die Piloten zu befragen.
In Anchorage betrat sie das nächste Einkaufszentrum; Neuland für sie. Die klimatisierte Luft in der Shopping Mall erinnerte sie an ihr Zuhause, aber die stete leise Popmusik, die dahinplätscherte wie der Springbrunnen inmitten der heimatlichen Kantine, wäre garantiert nie im Labor gespielt worden.
Es gab auch genügend Ausrüstungsläden für Angler, Jäger und Camper, und nach ihrem Urlaub mit Neil wusste sie, was sie benötigen würde. »Falsche Ecke, Miss«, sagte eine der Angestellten lachend zu ihr, als sie eine Hose vor sich hin hielt, um zu sehen, ob die Länge passte, »das ist für die Jungs.«
Beatrice lächelte schwach.
»Ich weiß. Ist für meinen Bruder, der ist gleich groß.«
Sie kaufte immer nur wenige Teile, wechselte häufig die Läden, um nicht aufzufallen, und besaß am Ende einen großen Rucksack, Hosen, Pullover, Unterwäsche, eine Strickmütze und einen weit geschnittenen Anorak, der selbst einen üppigeren Busen als den ihren verborgen hätte.
Um einen batteriebetriebenen Haarschneider zu bekommen und ein Haarfärbemittel, musste sie dann schon etwas länger suchen und auch mehrmals fragen; inzwischen war es schon spät, und nur die großen Geschäfte hatten noch geöffnet.
»War das ein Tag«, kommentierte die Verkäuferin.
»Das können Sie laut sagen.«
Mit all den Utensilien ausgestattet, hatte sie mittlerweile beinahe zu viel zu tragen, und sie war dankbar für das Fast Food Restaurant im Hause. Zuerst verschwand sie aber noch auf die Toilette. Es war gar nicht leicht, all die Tüten auf engem Raum unterzubringen. Zumindest gab es keine ungeduldigen Schlangen von anderen Frauen, die draußen darauf warteten, dass sie endlich fertig wurde. Der Geruch nach abgestandenem Urin war ekelhaft, eine neue Erfahrung, auf die sie gerne verzichtet hätte. Sie zog sich um, so gut es ging, und schlüpfte in die neuen Sachen. Dann holte sie den Haarschneider heraus, mit dem sie sich auskannte, da sie mit einem ähnlichen Gerät ihrem Vater öfter schon die Haare geschnitten hatte. Sie machte sich an ihr Haar. Es ging nicht, zu dicht und zu lang. Bei dem Haarschneider lag noch eine Schere, mit der sie nun ansetzte.
Während ihrer Kindheit hatten sich mehrere der Frauen im Labor, wie Emily Winterbottom, Amy oder später Tess, darin abgewechselt, Beatrice ab und zu einen Haarschnitt zu verpassen, in der Regel nur die Spitzen, oder ihr zu zeigen, wie man es aufstecken konnte. In den letzten Jahren hatte sie es selbst getan, außer zu Silvesterfeiern; da hatte ihr Tess geholfen. Auch Tess würde sie nicht wiedersehen. Es kam ihr vor, als schnitte sie mit jeder dichten Haarsträhne ein Stück Vergangenheit ab. Es tat weh.
»Du hast wunderschönes Haar«, sagte Neil in ihrer Erinnerung, und er ließ es sich durch die Finger laufen. Sie biss sich auf die Lippen, und eine weitere dunkle Haarlocke landete auf dem Boden. Dann reichte es für den Haarschneider, und sie wählte den Aufsatz mit den sieben Millimetern. Runterspülen, schnell runterspülen, nur nicht hinsehen.
In dem kleinen, angerosteten Spiegel, der über dem verschmutzten Waschbecken hing, sah sie einen verunglückten Armeeschnitt. Aber wenigstens erfüllte er seinen Zweck; das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenstarrte, wirkte jünger, geschlechtslos. Die Mütze machte sie endgültig zu einem Teenager. Sie verstaute ihre alten Kleider, den Haarschneider und die eingekauften Sachen in ihrem Rucksack, schulterte ihn und verschwand mit abgewandtem Gesicht so rasch wie möglich aus der Toilette.
Am Bahnhof erfuhr sie, dass um diese Zeit noch kein Zug nach Seward ging. Sie hatte sich aber entschlossen, wieder zurückzufahren, dorthin, wo man sie bestimmt am wenigsten vermutete. Beatrice verbrachte die Stunden bis zum Frühzug damit, bei Starbucks Kaffee zu trinken. Die wenigen anderen Nachtschwärmer, die sich außer ihr noch auf dem Bahnhofsgelände herumtrieben, schenkten ihr kaum Beachtung. Mit dem Rucksack wirkte sie wie einer der
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