Götterdämmerung

besorgter Miene. Gut. Wenn Matt ihm nicht glauben würde, dann hätte er versagt, doch wenn Matt ihm glaubte, dann gab es auch die Chance, dass er Armstrong überzeugte.
    Ein Bett wurde an ihnen vorbeigerollt, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Neil fragte sich, ob Ben jetzt schon in die Pathologie gebracht wurde, und mit diesem Gedanken zerfloss der graue Nebel endgültig. Er keuchte auf und lehnte sich gegen die Wand.
    »Mein Sohn«, stöhnte er, »mein Sohn, mein Sohn, mein Sohn…«
    Matt zögerte, dann umarmte er ihn ungeschickt. Aber Neil brachte es immer noch nicht fertig, zu weinen.
     
    Der Friedhof, auf dem die Beerdigung stattfand, glich den meisten im Lande: ein grüner Einheitsrasen, aus dem stereotype weiße Grabsteine herausragten. Wenn Lou und Owen noch hier gewesen wären, hätten sie in ihrer offenen Art Vergleiche zu den Friedhöfen Louisianas ziehen können, wo die Krypten zwar weniger eine Frage der Ästhetik als der durch Feuchtigkeit und Hitze entstandenen Notwendigkeit waren, aber doch dafür sorgten, dass man ein Grab von dem anderen unterscheiden konnte. Aber Lou und Owen waren von Deirdres zurückgekehrten Eltern abgelöst worden und wieder Richtung Louisiana verschwunden.
    Einige von Deirdres Kollegen und Kolleginnen waren erschienen, nicht jedoch der Senator, was Neil gleichzeitig überraschte und erleichterte, bis er den Fehler beging, Deirdre danach zu fragen, und so erfuhr, sie arbeite nicht länger für Cunningham.
    »Und sag nicht, es tut dir Leid«, fügte sie hinzu. »Ich weiß genau, das du ihn nie gemocht hast.«
    Es gab weitaus schlimmere Politiker als Cunningham, der erstaunlich viele seiner Wahlversprechen zu halten pflegte; da sie jedoch ideologisch so grundverschieden eingestellt waren, hatte Neil nie große Sympathien für ihn gehegt, doch die Abneigung, die Eifersucht wegen der Hingabe, mit der Deirdre für ihn arbeitete, und all der Zeit, die sie mit ihm verbrachte, war erst nach dem 11. September entstanden. Unter anderen Umständen hätte er entweder einen Hauch von Schadenfreude oder Bedauern empfunden, da er wusste, wie viel ihr Beruf Deirdre bedeutet hatte. Da er sich jedoch denken konnte, wessen Schuld es war, dass Cunningham sie entlassen hatte, empfand er stattdessen Scham. Deirdre beim Chronicle belastet zu haben, war nur eine Kleinigkeit, verglichen mit der Gefahr, in die er Ben gebracht hatte, aber es fügte ihr zusätzliche Wunden zu, die er ihr hätte ersparen können.
    Julie trug ihre Schuluniform und hielt sich an der Hand ihrer Großmutter fest. Er fragte sich, ob Julie die Beerdigung ihres Bruders so sehr hasste, wie er die seiner Mutter gehasst hatte. Totenwachen und Beerdigungen waren die Mitgift des Südens, doch er hatte sie seinen Kindern nie gewünscht, niemals.
    »Noch etwas«, sagte Deirdre, die neben ihm stand und seinem Blick zu Julie gefolgt war, abrupt, sehr leise, sehr präzise. »Wenn das alles vorbei ist, will ich dich nicht mehr sehen. Ich will nicht, dass du Julie noch einmal siehst. Ist das klar?«
    »Sie braucht…«
    »Sie braucht Menschen, auf die sie sich verlassen kann. Nicht Menschen, die ihr nur wehtun und sie mit sich in den Abgrund ziehen. Du hast eins meiner Kinder umgebracht, Neil. Sei wenigstens so anständig und gib Julie eine Chance auf ihr Leben.«
    Es war ungerecht und gerecht zugleich, ein Schlag von meisterhafter Grausamkeit. Ein Teil seines Verstandes teilte ihm mit, dass sich Deirdre bei allem Schmerz diese Gelegenheit sehr gut ausgesucht hatte, denn sie wusste genau, dass er zu einem späteren Zeitpunkt wahrscheinlich einen Streit vom Zaun gebrochen hätte. Nur nicht an Bens Sarg, dem Kindersarg, in dem ihr Sohn lag, der von ihnen zur Liebe und Freude in die Welt gebracht worden war.
    Ein Ziehen im Nacken verschaffte Neil das Gefühl, beobachtet zu werden. Matt hatte versprochen, dafür zu sorgen, dass keine Fotografen kommen würden, und Neil verließ sich auf ihn. Aber es mochte gut sein, dass er noch immer unter Beobachtung wegen seiner angeblichen terroristischen Verbindungen stand. Also drehte er den Kopf zur Seite, in der Erwartung, eine der anonymen Figuren in Grau aus dem Staatsdienst zu sehen. Die Gestalt, die er stattdessen im Schatten einer Ulme erkannte, neben einem anderen Grab, weit genug entfernt, um nicht vorzugeben, ein Mitglied der Trauernden zu sein, aber in Schwarz gekleidet wie sie, nahm ihm sekundenlang den Atem.
    Er wusste nicht, was er empfand: Erleichterung, Groll, Freude,