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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Bitterkeit oder Liebe. Sie noch lebend wiederzusehen, hatte er mittlerweile eigentlich aufgegeben, und die Trauer um sie hatte sich mit dem schuldbeladenen Ausharren an Bens Seite vermischt. Aber nun fragte er sich unwillkürlich, ob Ben noch lebte, wenn er sie nie kennen gelernt hätte. Etwas, das seit der Nachricht von Bens Unfall in ihm brachgelegen hatte, kehrte zurück und ritzte sich mit der Präzision einer Linolnadel in sein Herz.
    Ben hatte Freunde gehabt, und einige von ihnen standen mit ihren Eltern da wie hilflose, unfertige Puppen. Neil stellte fest, dass er keinen von ihnen erkannte. Vor drei Jahren hätte er zumindest zwei der Freunde seines Sohnes auf der Straße identifizieren können, aber inzwischen keinen einzigen mehr. Er zerbrach sich den Kopf, ob ihm wenigstens einer der Namen einfiel, selbst wenn er keinem der Namen ein Gesicht zuordnen konnte. Sicher hatte Ben von ihnen gesprochen. Doch sein Gedächtnis verweigerte ihm alle Namen bis auf den des Jungen, mit dem Ben als Dreijähriger gespielt hatte, und verhöhnte ihn dafür mit allen Namen der Leute aus dem Labor, die Beatrice ihm je genannt hatte. Er schaute wieder zu Julie. Vielleicht hatte Deirdre Recht. Vielleicht war sie ohne ihn besser dran.
    Als die Beerdigung vorbei war und die Trauergäste sich anschickten, Deirdre und Neil zu kondolieren, sagte Deirdres Vater rasch, sie würden Julie am besten gleich nach Hause bringen. Deirdre nickte und antwortete mit der Mechanik langer Übung in Floskeln auf die Beileidsbekundungen. Neil stellte fest, dass die meisten ihn mit einem mühevoll konzentrierten Blick musterten, als besännen sie sich entweder darauf, wer er war, oder überlegten, ob er nun als verrückt oder kriminell galt. Der Wunsch, das alles möge endlich vorbei sein, wurde mit jedem Handschlag stärker. Das leere Baseball-Stadion der Red Sox, das er nie mit den Kindern besucht hatten, wäre ein besserer Ort gewesen, um an Ben zu denken, als dieser Friedhof. Aber daran war nichts Neues. Beerdigungen waren für die Lebenden da, nicht für die Toten.
    Als Deirdre schließlich die letzten Gäste verabschiedete, zog er Matt zur Seite und bat ihn, alleine zurückzufahren.
    »Ich möchte mich in Ruhe von Deirdre verabschieden«, sagte Neil, »und danach brauche ich etwas Zeit für mich.«
    »Bist du sicher?«, fragte Matt besorgt. »Und wie willst du dann zurückkommen?«
    Neil zuckte die Achseln. »Taxi, Metro, was weiß ich. Und ja, ich bin mir sicher.«
    Matt legte ihm noch eine Hand auf die Schulter, dann ging er, zusammen mit Deirdres ehemaliger Assistentin und deren Ehemann. Die von keinen murmelnden Stimmen mehr untermalte Stille, in der sich Deirdre und Neil über das Grab ihres Sohnes hinweg anschauten, war steril und endgültig wie die antiseptischen Gerüche des Krankenhauses. Er dachte an das junge ehrgeizige Paar, das auf unterschiedliche Weise davon überzeugt gewesen war, die Spitze erreichen zu können, er dachte daran, wie er seine ersten und letzten Gedichte für Deirdre schrieb, wie sie den Pulitzer-Preis mit einer Nacht aus Gelächter und Champagner feierten, wie Deirdre aussah, als er sie nach Bens Geburt besuchte. Er dachte an das goldene Mädchen, in das er sich verliebt hatte, und daran, wie das Eisen eines erbarmungslosen Bildhauers, das er selbst zu schmieden mitgeholfen hatte, nun auch die letzten Stücke dieses Mädchens weggeschlagen und eine neue, zerstörte und durch und durch feindselige Frau modelliert hatte.
    »Ben und Julie waren ein Geschenk«, sagte er. »Aber du, du warst auch eins.«
    Sie blinzelte; er hatte sie so wenig weinen sehen wie sich selbst und war sich nicht sicher, ob es gut für sie wäre, wenn er ihren unvermeidlichen Zusammenbruch miterlebte. Doch Deirdre fing sich wieder.
    »Leb wohl, Neil«, sagte sie. Nicht mehr hasserfüllt, aber sehr, sehr fremd am anderen Ende einer Brücke, die unaufhaltsam in sich zusammenfiel. Dann wandte sie sich ab und ging.
    Es konnte fünf Minuten, es konnte nur eine Minute, es konnte eine halbe Stunde später sein, als Neil von Bens Grab aufschaute, weil er Beatrices Schritte hörte. Als sie näher kam, konnte er sehen, dass sie ihre alte Blässe verloren hatte, obwohl sie unter den sonnengebräunten Bewohnern Washingtons noch immer als hellhäutig gelten würde. Ihre Haare waren so kurz geschnitten wie die eines Jungen.
    Er wusste nicht, ob er mit einem Vorwurf beginnen würde oder mit Fragen, mit Anklagen oder mit der Erleichterung, sie am Leben und

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