Götterdämmerung
habe den Prozess gewonnen?«
»Nein. Was weiter?«
»Der Vater lobt ihn nicht, sondern flucht und klagt. An diesem Prozess hat schon mein Vater gut verdient, erklärt er, dich und deine Kinder hätte er auch über die Runden gebracht, und da gehst du hin und gewinnst ihn!«
»Sehr witzig. Aber langsam verstehe ich, worauf du hinauswillst.«
»Patente laufen in diesem Land gewöhnlich nach zwanzig Jahren aus«, sagte Neil. »Angenommen jemand, irgendjemand, hätte damals schon ein wirksames Gegenmittel gefunden, dann wäre es heute billiger als ein Kopfschmerzmittel zu haben.«
»Du spekulierst immer noch. Fakten, Neil, Fakten.«
»Okay. Fakt: Wie jede andere Industrie versucht auch die Pharmaindustrie, ihren Markt auszuweiten, aber ihr Markt ist davon abhängig, dass Leute krank sind, nicht gesund. Fakt: Der Pharmamarkt weltweit liegt bei etwa 450 Milliarden Dollar pro Jahr und steigt durch neu entdeckte Krankheiten jährlich um etwa sieben Prozent. Das ist im Vergleich zu anderen Branchen verdammt viel. Livion ist eines der Spitzenunternehmen innerhalb der Pharmaindustrie mit Umsatzsteigerungen von jährlich fünfzehn Prozent. Fakt: Mittel zur Behandlung von AIDS sind eine Haupteinnahmequelle. Angenommen: Wenn weltweit alle AIDS-Kranken versorgt werden müssten, und vielleicht zahlt das die UN ja irgendwann für die Entwicklungsländer, dann wären das 450 Milliarden Umsatz mehr in der Pharmaindustrie - für den Anfang. Jetzt kauft aber Livion in den Achtzigern ziemlich billig die Lizenz für ein Krebs-Medikament, das kurz davor steht, verboten zu werden, weil die Nebenwirkungen zu stark sind und auf eine Vernichtung der T4-Zellen herauslaufen.«
Matt sah verwirrt aus, und Neil präzisierte: »Es gab ein paar Todesfälle bei Leukämie-Kranken, und es sollte eigentlich vom Markt genommen werden. Und dann, presto, stellt sich heraus, dass eben dieser Effekt bei der Bekämpfung von AIDS von Nutzen sein kann, und das Ding wird ein Verkaufsschlager. Fakt: Zur gleichen Zeit behandelt ein von Livion finanzierter junger Wissenschaftler, der bereits mit Erfolg eine Alternative für Insulin gefunden hatte und damit auf dem besten Weg war, einen Geschäftszweig zu erledigen, was bis heute die gesamte Branche zu verhindern versucht, AIDS-Patienten und verschwindet dann. Nun sag mir ehrlich, Matt - lohnt unter diesen Voraussetzungen nicht zumindest etwas produktives Misstrauen? Ja, ich kann mich irren. Aber kannst du mir nachweisen, dass meine Theorie unmöglich stimmen kann?«
»Verrate du mir zuerst etwas. Auch in aller Ehrlichkeit. Bei diesen Gedankensprüngen von Umsätzen in der AIDS-Industrie zu Sanchez zu Livion zu Armstrong frage ich mich, was dir dabei wirklich wichtig ist? Wie die Sache mit AIDS anfing? Was aus Sanchez wurde? Was ein Großunternehmen heute an AIDS verdient? Worauf kommt es dir an?«
Es erinnerte Neil an die Frage, die ihm einer der Chatteilnehmer vor zwei Tagen gestellt hatte. Morgan. Matt konnte er nicht mit der Suche nach der Wahrheit als einzigem Motiv kommen.
»Ich habe vor einer Woche eine Frau interviewt«, sagte er schließlich, »eine Frau, die bereits einen Sohn durch AIDS verloren hat und wahrscheinlich noch einen zweiten verliert, weil sie sich die Medikamente nicht leisten kann, die seinen Tod hinauszögern würden. Ich weiß verdammt gut, wie beschissen man sich fühlt, wenn einem die Familie unter den Händen wegstirbt, Matt. Es ist ein widerliches Gefühl. Ich wünsche das niemanden, auch meinem ärgsten Feind nicht. Aber ich konnte damals wenigstens jemandem die Schuld daran geben. Du und ich, wir konnten beweisen, dass es nicht nur Leichtsinn und purer Zufall war, sondern die jahrtausendealte Verbindung aus Politik, Militär und Wirtschaft, und glaub mir, das hat mir geholfen.«
»Und du suchst jetzt jemanden, dem diese Frau die Schuld geben kann?«, fragte Matt ruhig.
»Vielleicht«, erwiderte Neil offen. »Wahrscheinlich, ja. Aber auch wenn du mich für einen Fanatiker hältst, wenn ich mich irre, wenn ich herausfinde, dass ich völlig auf dem Holzweg war, dann bin ich bereit, das zuzugeben. Aber ich will es wissen.«
Matts Miene hellte sich auf. Er erkannte eine gute Story, wenn er sie hörte, das wusste Neil, und er konnte die Gespanntheit in seinem alten Freund spüren. Aber er wusste auch, dass es mittlerweile Spuren gab, die Matt nicht mehr verfolgen wollte; das zu akzeptieren, war notwendig gewesen, um seine Freundschaft nicht zu verlieren. So war er nicht
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