Götterdämmerung
seufzte. Er ließ seinen Blick vom Pin-Board, an das Neil eine Reihe von Ausdrucken und Fotos geheftet hatte, zu Neils Schreibtisch wandern.
»Ich dachte, du wolltest über AIDS schreiben.«
»Das tue ich. Aber Sanchez ist für mich der rote Faden, verstehst du. Das Geheimnis im Hintergrund. Sanchez könnte die Story sein. Überleg doch mal. Du bist jung, dir liegt die Welt zu Füßen, jedermann preist dich als Genie, und dann verschwindest du plötzlich? Und das, kurz nachdem du ein paar Leute untersucht hast, die ein paar rätselhafte, in dieser Kombination noch nicht da gewesene Krankheitssymptome zeigen? Warum hat sich Sanchez nicht hingesetzt und ist der neue Robert Koch geworden? Warum hat er nicht zumindest Gallo den Rang abgelaufen und das HI-Virus als Erster identifiziert? Neben allem anderen hätte ihn das steinreich gemacht.«
»Er war eben kein Virologe?«, entgegnete Matt trocken. Neil warf mit einem Radiergummi nach ihm, den Matt problemlos aus der Luft fischte. Ihm wurde einmal mehr bewusst, wie sehr er Matt vermisste. Nicht eigentlich die Zusammenarbeit; sie waren schon bald nach Liebesgrüße aus Los Alamos ihre eigenen Wege gegangen. Einfach das Zusammen sein, den ständigen Gedankenaustausch. E-Mails und gelegentliche Telefonate konnten das nie ersetzen.
»Du bist ungerecht«, hatte Deirdre einmal zu ihm gesagt, während einer ihrer zahlreichen Auseinandersetzungen. »Matt hat genau die gleichen Ansichten wie ich, und er würde noch nicht einmal mehr mit dir schreiben, wenn du ihn kniend darum bitten würdest, weil er nämlich seinen Job bei der New York Times und all die Verbindungen ins Weiße Haus behalten will. Aber Matt ist immer noch dein Freund, der ruhig seine eigenen Ansichten haben und sein eigenes Leben führen darf, und ich bin für dich Judas Iskariot.«
»Mit Matt bin ich nicht verheiratet.«
»Das frage ich mich manchmal«, hatte Deirdre heftig erwidert, und der Streit war in andere Bahnen gelenkt worden. In Wahrheit hatten die Ereignisse der letzten Jahre auch ihre Spuren in der Beziehung zu Matt hinterlassen. Er hatte sich nie die Mühe gemacht herauszufinden, ob Deirdre mit ihrer Anschuldigung Recht hatte, ob Matt ihn in einer Zwangslage fallen lassen würde. Der Zweifel allein nahm ihrer Freundschaft etwas von der Tiefe, die sie früher gehabt hatte, und fügte dafür etwas von der Neutralität einer Bekanntschaft hinzu.
»Du hast also eine Theorie«, sagte Matt und warf ihm den Radiergummi zurück. »Aber ich hoffe, sie baut auf mehr als darauf, dass ein Forscher der Öffentlichkeit den Rücken gekehrt hat.«
»An der Sache ist etwas dran, glaube mir. Es kommt immer etwas Interessantes dabei heraus, wenn man dem Geld folgt und sich zum Beispiel die Mühe macht nachzuschauen, wer dem Junggenie aus Kuba sein Studium bezahlt hat.«
»Ich dachte, Junggenies leben von Stipendien.«
»Eben. Bloß, wer finanziert die Stipendien? Das sind nicht immer vergreiste oder tote Millionäre, die noch einmal das schlechte Gewissen gepackt hat, kurz bevor sie abkratzten. Nein, einer der frühesten Berichte, die ich über Dr. Sanchez gefunden habe, stammt aus dem Miami Herald und besagt, dass ihm mit knapp über zwanzig Jahren das Edith-Armstrong-Gedächtnis-Stipendium verliehen wurde.«
Sein ehemaliger Partner nahm sich den einzigen anderen Stuhl im Raum, auf den Neil sonst verlegene Studenten platzierte, drehte ihn um und setzte sich rücklings darauf. Es erinnerte Neil an ihre Zwei-Mann-Konferenzen in der Ecke, die man ihnen innerhalb des Redaktionsraums zugeteilt hatte. Es versetzte ihm einen kleinen Stich.
»Und?«, fragte Matt; man konnte seiner gefurchten Stirn ansehen, dass er dabei war, Neils Gedankengang auf die Spur zu kommen.
»Die Edith-Armstrong-Gedächtnis-Stiftung wird von Livion finanziert. Livion wie Livion, das Pharmaunternehmen. Das gleiche Pharmaunternehmen, das unter anderem Azidothymidin unter die Leute bringt. Besser bekannt unter der Abkürzung AZT. Eines der Mittel, die zur Hemmung von HI-Viren eingesetzt werden. Wenn ich mich nicht irre, dann macht kein anderer Pharmakonzern so viel Geld mit AIDS. Livion war so schlau, Anfang der Achtziger die Lizenz zu kaufen, als AZT kurz davor stand, verboten zu werden.«
Die Grube zwischen Matts Brauen vertiefte sich. »Armstrong wie James T. Armstrong, natürlich. Aber ich weiß nicht, wo du da ein Problem siehst. Wenn Livion heute die besten Mittel gegen AIDS anbietet, dann doch nur, weil ihre Wissenschaftler am
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