Götterdämmerung
Gedächtnis geblieben, aber was ihr entfallen oder nie richtig ins Auge gestochen war, ließ sich nicht einfach zusammenfassen. Es war der Ton, der sehr persönliche, sehr lebendige Ton, der sie in das Thema hineinzog. Er machte die Opfer lebendig, gab ihnen Gestalt, bis sie glaubte, wirkliche Stimmen zu hören in den Interviews, die den Kern des Buches bildeten. Außerdem verzichteten die Autoren völlig auf die sonst in Sachbüchern üblichen Verklausulierungen. Es gab kein »Vielleicht« und »Möglicherweise«; die beiden, die dieses Buch geschrieben hatten, waren von ihrer Sache überzeugt und nicht im Mindesten beeindruckt von den üblichen Gegenargumenten.
Sie war noch in die Lektüre vertieft, als Tess anrief, um zu fragen, ob Beatrice bei ihrem Vater ein gutes Wort wegen eines kurzen Urlaubs einlegen könnte. Tess, ihre beste Freundin im Labor, wohnte im Gegensatz zu Beatrice und ihrem Vater in Seward. Seit Jahren schlug sie die Möglichkeit aus, eine der Wohnungen neben dem Laborkomplex zu beziehen. »So gern ich mit euch allen arbeite«, pflegte Tess zu sagen, wenn man sie darauf ansprach, »irgendwann muss der Mensch auch mal allein sein, und wenn ich vierundzwanzig Stunden am Tag sieben Tage in der Woche in unserem Brutkasten mit euch verbringe, werde ich verrückt.« Das Bild, das Beatrice sich von Seward und von Anchorage machte, verdankte sie größtenteils Tess, und es war unterlegt von dem Lachen und dem Trubel, der auch jetzt im Hintergrund von Tess’ Anruferklang.
»Klar«, erwiderte Beatrice abwesend.
»Du bist ein Schatz. Weißt du, ich habe da jemanden kennen gelernt…«
»Tess«, unterbrach Beatrice, was sie sonst nie tat, »was weißt du über oberirdische Atomtests?«
»Was? Wie bitte?«
Beatrice gab ihr eine kurze Zusammenfassung von dem, was sie gerade las.
»Und damit verdirbst du dir den Abend? Bea, das ist doch schon ewig her und längst Geschichte.«
»Aber Tess, dir ist doch klar, dass die Halbwertszeiten der Stoffe, die damals in der Atmosphäre freigesetzt worden sind, wie Strontium oder Cäsium, in Tausenden von Jahren gerechnet werden müssen und damit weder für dich noch für mich oder unsere Kinder und Kindeskinder die möglichen Folgen vorbei sind. Mom ist nicht die Einzige, die deswegen an Krebs gestorben sein könnte; es sterben jedes Jahr immer noch Hunderttausende. Hier steht, dass die Strahlung um bis zu siebzigfach höher war, als es Militär und Wissenschaftler dem Kongress gegenüber je zugegeben haben.«
»Bea«, sagte Tess energisch, »du bist mit dem Marschieren gegen Atomkraft ein paar Jahrzehnte zu spät dran. Das ist eine Schlacht, die längst geschlagen ist. Was geschehen ist, ist geschehen. Hinterher sind alle immer klüger. Das waren andere Zeiten, und die Entscheidungsträger von damals wussten garantiert nicht über das wahre Ausmaß Bescheid. War’s das mit dem Geschichtsausflug für heute?«
Es war hoffnungslos. Sie konnte Tess nicht begreiflich machen, was sie selbst noch nicht zu Ende gedacht hatte. Beim Lesen des Buches war eine böse Vermutung in ihr geweckt worden. Das Ganze hatte sie unvermittelt an ihre eigene Tätigkeit erinnert, an die ihres Vaters, an die aller Mitarbeiter des Labors. Wenn damals nur ein kleiner Teil der Bevölkerung eine ungefähre Ahnung von den Konsequenzen radioaktiver Strahlung gehabt hatte und ein noch geringerer Teil auch nur ansatzweise die Details kennen konnte, so galt das heute doppelt für das, was hier in Alaska betrieben wurde: Genforschung. Und auch hier galt: Die Entscheidungen darüber wurden nicht bei ihnen gefällt, in der wissenschaftlichen Welt, in der sie aufgewachsen war. Die Entscheidungen trafen wieder genau die gleichen Leute, die damals im Kalten Krieg das Sagen hatten. War die heutige Generation von Beamten, Politikern und Militärs besser?
Natürlich konnte sie verstehen, warum Tess jetzt für dergleichen unausgegorene Grübeleien keinen Sinn hatte. Das Neueste aus Tess’ regem Privatleben rauschte an Beatrice vorbei, und sie versuchte sich darauf zu konzentrieren. Aber die Rückseite eines alten Buches hatte sie in Gestalt seiner Autoren im Griff, und sie konnte den Blick nicht mehr davon abwenden.
* * *
»Und das Beste«, sagte Neil triumphierend, »niemand scheint sich bisher gefragt zu haben, was aus ihm geworden ist.«
Matt, der offenbar glaubte, sich persönlich vergewissern zu müssen, dass Neil ihn hinsichtlich seines Gesundheitszustandes nicht angelogen hatte,
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