Götterdämmerung
einigermaßen hilflos.
»Seelöwen sind was für Babys«, antwortete Ben verächtlich.
»Die haben jetzt auch einen Killerwal da.«
»Das heißt nicht Killerwal, Dad«, verbesserte ihn Julie ungehalten. »So was ist der falsche Ausdruck und diskriminierend. Man sagt Grampus oder Orcinus Orca.«
Neil lag es auf der Zunge zu fragen, wer die politische Korrektheit auch für Wale eingeführt hatte, doch er ließ es bleiben. Am Ende saßen Ben und Julie einigermaßen friedlich vor dem Videorekorder und sahen sich Shrek an, während er die Unterlagen durchging, die ihm Matt weitergeleitet hatte. Über Victor Sanchez gab es nichts Wesentliches, was er nicht schon herausgefunden hatte; die einzigen wirklich neuen Informationen in Sachen Sanchez waren die Bezeichnungen von ein paar Patenten, bei denen er als Erfinder von Wirkstoffen genannt wurde, die zur Grundlage von durch Livion vertriebenen Arzneimitteln geworden waren. Was den Wohnort betraf, so hieß es nur, Dr. Sanchez lebe sehr zurückgezogen.
Die Liste der übrigen Edith-Armstrong-Stipendiaten war beeindruckend. Einer von ihnen war heute leitender Herausgeber der bedeutendsten Fachzeitschrift für Molekularbiologie; ein anderer, der sich auf Herzchirurgie spezialisiert hatte, rettete vor ein paar Jahren einem Kabinettsmitglied in einer äußerst komplizierten Operation das Leben. Clive Forsythe hatte den betreffenden Artikel an den Lebenslauf geheftet und hell angestrichen. Eine sehr schmeichelhafte Geschichte, dachte Neil und ermahnte sich, seine Paranoia nicht überhand nehmen zu lassen.
Bei fast allen Lebensläufen wurde der augenblickliche Wohnort und das derzeitige Beschäftigungsverhältnis genannt. Außer bei Sanchez und einem gewissen Warren Mears. Neil legte sich dessen Lebenslauf heraus und ging ihn noch einmal durch, auf der Suche nach irgendwelchen Punkten, die mit Sanchez’ offizieller Vita übereinstimmten. Nach dem dritten Durchlesen wurde er endlich fündig.
Dr. Warren Mears, 54, hatte gemeinsam mit Victor Sanchez für Livion das Medikament Anthromod entwickelt, das erst wenige Monate auf dem Markt war. Neil konnte das über das Patentamt nachprüfen lassen. Die offizielle Lebensbeschreibung des Dr.Warren Mears war allerdings gehaltvoller als die von Dr. Victor Sanchez:
»In seiner spärlichen Freizeit genießt Dr. Mears das Hochseesegeln; sein Boot hat er in Dankbarkeit für den Mann, der ihm durch das Edith-Armstrong-Gedächtnis-Stipendium das Sprungbrett zu seiner atemberaubenden Karriere bot, Mr. President genannt.«
Zweifellos ein Detail, das Dr. Mears in voller Absicht an die Presseabteilung weitergegeben hatte. Es war nie verkehrt, dem Mann offen zu schmeicheln, der auch in Zukunft die Schecks unterzeichnete. Neil hätte ihn umarmen mögen. Mears und Sanchez hatten vor etwa fünf Jahren, wenn man die Zeit berücksichtigte, die es mindestens brauchte, bis ein Medikament zugelassen wurde, noch eng genug zusammengearbeitet, um gemeinsam als Erfinder genannt zu werden, und vor allem: für Livion gearbeitet. Sanchez befand sich irgendwo in Alaska; Mears hatte ein Boot. In Alaska mit seinem nördlichen Klima konnte es nicht allzu viel Möglichkeiten geben, sein Schiff ganzjährig unterzubringen, und den Namen des Bootes hatte ihm Mears dankenswerterweise auch noch geliefert. Der Staat war riesig, gewiss; soweit Neil sich erinnerte, passten die drei nächstgrößeren amerikanischen Bundesstaaten gemeinsam in das Territorium von Alaska hinein, obwohl es dort nur etwa so viele Einwohner wie in Nashville oder Washington, D.C. gab. Unter der halben Million die Yachtbesitzer zu identifizieren, die ihr Boot »Mr. President« nannten, ließ sich machen, da war sich Neil sicher.
Neben den Lebensläufen hatte der gewissenhafte Clive Forsythe tatsächlich, wie von Neil angeregt, einiges über Umweltprojekte beigelegt, und siehe da, die umtriebige A.W Holding unterstützte neben geschützten Sumpfgebieten in Louisiana und Florida auch zwei Naturschutzreservate in Alaska.
»Livion insbesondere ist es zu verdanken«, hieß es, »dass die Wildnis, um mit Jack London zu sprechen, immer noch ruft.«
Neil war so vertieft in die Lektüre, dass ihm das Ende des Videos völlig entging. Erst als sich seine Kinder vor ihm aufgebaut hatten und an seinem Arm zogen, wurde ihm wieder bewusst, dass er nicht alleine war.
»Mir ist langweilig, Dad«, verkündete Ben.
Zum ersten Mal seit der Scheidung erinnerte Neil sich daran, dass er es hasste, Zeit für die
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