Götterdämmerung
Kinder haben zu müssen, aber den Kopf dafür nicht freizubekommen. Am Ende fuhr er mit ihnen in die Stadt und machte einen Spaziergang, der im Columbus-Park begann. Mitten in einer lebhaften Diskussion über Shrek oder Ants als coolsten Animationsfilm aller Zeiten stolperten sie über eine Gruppe Kinder. Die meisten von ihnen machten sich lauthals über einen kleinen Jungen lustig, der mit zitternden Lippen zur Krone einer riesigen Buche hochblickte und sich sichtlich anstrengte, nicht zu weinen.
»Schaut euch mal Ken an - BAAAAABY!«
»Feigling, Feigling, Feigling!«
Ben blickte verlegen zur Seite, wie um die Schande des anderen Jungen nicht sehen zu müssen. Julie dagegen verließ Neils Seite und baute sich vor den Kindern auf.
»Lasst ihn doch in Ruhe!«, rief sie wütend.
Sei es, weil Julie älter war als die meisten von ihnen, sei es, weil sie ihren Vater dabeihatte: Ihr Zorn zeigte Wirkung. Der allgemeine Hohn versickerte zu einem leisen Murren. Unterdessen hatte Neil entdeckt, wo das Problem lag. Der Baum ließ sich nicht erklimmen, und ganz oben, in einem Ast verklemmt, steckte ein Bumerang.
»Der ge-gehört meinem älteren Bruder«, flüsterte der kleine Ken, schniefte und fuhr mit etwas festerer Stimme fort: »Joe weiß gar nicht, dass ich ihn genommen habe.«
Neil schaute nach oben, dann zu den Jungen, die Baseball gespielt hatten, und bat um den Ball.
»Kann ich den mal haben?«
»Äh, ich weiß nicht…«
Ben gab seine Passivität auf, da er die Gelegenheit für einen Streit erkannte, und setzte sich ähnlich wie Julie in Positur.
»Hey, mein Dad klaut nicht!«
»Nicht vor so viel Zeugen«, sagte Neil, nahm den Ball, prüfte sein Gewicht, ging ein paar Schritte zurück und warf. Ein paar Sekunden später krachten der Bumerang und der Ball zusammen mit Astwerk auf den Boden herunter. Das unwillige Geraune in der Kindergruppe ging in ein begeistertes Schreien über, während Ken glücklich zu seinem Bumerang lief.
»Wow. Das war echt cool«, sagte der Junge, der Neil voll Skepsis seinen Ball überlassen hatte. »Sind Sie Profi, Mister?«
»Früher mal«, entgegnete Neil. Während er mit seinen Kindern weiterging, fing Julie an loszuschnattern.
»Wann warst du denn in einer Baseballmannschaft, Dad?«
»Im College. Hat euch das Mom nicht erzählt?«
»Hast du gewonnen?«, fragte Ben begeistert. Mit einem Mal kam es Neil in den Sinn, dass sein Vater sich in einem seiner nüchternen Augenblicke wenigstens mit seinem Enkel verstanden haben würde.
»Aber sicher. Die Pokale stehen noch irgendwo bei meinem Onkel und meiner Tante in Louisiana herum und verstauben, so weit ich weiß.«
Beide machten ein enttäuschtes Gesicht, und Neil kam zum ersten Mal in den Sinn, dass es sich lohnen könnte, mit Deirdre über Ferien in Louisiana zu verhandeln. Als sie den Park verließen und zur Long-Wharf abbogen, kauften sie sich Hotdogs, und er zeigte ihnen die alten Werften von Boston. Das Museumsschiff, das man zu Ehren der Boston Tea Party im Fort Point Channel verankert hatte, war erst vor kurzem endlich wieder eröffnet worden, nachdem alle Restaurierungen beendet worden waren, und die Kinder hatten es noch nicht besichtigt. Er erzählte ihnen ein paar der mit dem Unabhängigkeitskrieg verbundenen Schauergeschichten und stellte zufrieden fest, dass die blutrünstigeren durchaus ankamen. Als Ben davon hörte, dass beim Massaker von Boston nur vier Menschen ums Leben gekommen waren und die »brutalen« verantwortlichen Briten angesichts einer gewalttätigen Menschenmenge kaum eine andere Wahl gehabt hatten, als das Feuer zu eröffnen, war er verwirrt. Julie wirkte nicht verwirrt; sie wirkte verstört.
»Du sagst das doch nicht nur?«, fragte sie leise.
»Nein, Schatz, es ist eine Tatsache. Du kannst es in den Geschichtsbüchern nachlesen. Aber mach dir nichts draus, die Briten hatten es trotzdem verdient, dass wir sie hochkant rausgeworfen haben. Wir haben es nicht mehr eingesehen, dass sie uns ausbeuten und uns sagen, wo es langgeht, nur weil sie mehr Waffen, mehr Geld und mehr Macht hatten. Das ist etwas, worauf man stolz sein kann, Julie: Wir Amerikaner haben unser Schicksal selbst in die Hand genommen.«
Seine Tochter scharrte mit ihrem Fuß auf dem roten Pflasterstein, über den sie inzwischen wanderten, seit sie die Hafengegend hinter sich gelassen hatten.
»Es ist nur«, begann sie, schluckte und platzte schließlich heraus: »Der Dad von Sadie Thompson hat gesagt, du bist ein
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