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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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nicht. Keiner von uns konnte aufstehen und wegrennen, um Hilfe zu holen.«
    »Wow.«
    »Das ist kein Film, Ben«, sagte Neil ungewollt scharf und mäßigte seinen Ton sofort wieder, als er weitersprach. »Das ist die Realität. Glaub mir, ich wäre an dem Tag lieber überall sonst gewesen, nur nicht dort.«
    »Mom muss ganz schön Angst um dich gehabt haben«, stellte Julie fest.
    »Sie hat es zum Glück erst hinterher erfahren, als alles vorbei war. Danach musste ich ihr allerdings versprechen, keine Kriegsberichterstattung mehr zu machen. Was mir nicht weiter schwer fiel - wenn man so etwas einmal mitmacht, dann hat man genug.«
    »Aber warum?«, beharrte Ben. »Ihr müsst doch dort gewonnen haben. Wir gewinnen immer.«
    Mit einiger Mühe schluckte Neil ein paar historische Belehrungen hinunter. Ben und Julie waren keine Studenten, sie waren Kinder, die vor allem Sicherheit im Umgang mit Schulkameraden brauchten.
    »Niemand hat in Somalia gewonnen, Ben«, entgegnete er stattdessen. »Also, ich hatte mich natürlich die ganze Zeit vorher mit den Soldaten unterhalten, schließlich wollte ich über sie schreiben. Dabei sprachen wir auch über Baseball, und es stellte sich heraus, dass sich ein Soldat noch erinnern konnte, dass ich im College mal als Pitcher ein perfektes Spiel geliefert habe.«
    Er fuhr seinem Sohn durch das Haar und hoffte, nicht allzu sehr wie sein Vater zu klingen.
    »27 Würfe, ohne dass ein Schläger die Base erreicht hat.«
    »Wow.«
    »Aber was hat das mit Somalia zu tun?«, fragte Julie kritisch.
    »Nachdem die Soldaten ein paar Mal vergeblich probiert hatten, mit Handgranaten das kleine Fenster zu treffen, von dem aus das Sperrfeuer kam, gab mir ihr Anführer den Befehl, zu werfen. Handgranaten wären auch nichts anderes als ein Baseball, brüllte er. So übel und verzweifelt war die Lage für uns. Soldaten sind die härtesten aller Profis, sie hassen es normalerweise, wenn Amateure sich einmischen. Aber jetzt: Neben mir lag die Leiche des Fotografen, alle starrten mich an, mir war speiübel, und ich wusste nur, dass ich mich nie wieder über unser Militär lustig machen würde. Über Generäle vielleicht. Aber Soldaten, die bereit sind, so etwas zu ertragen…«
    »Und dann hast du die Granate geworfen?«, unterbrach Julie, die nichts von der Geduld ihrer Mutter für weitschweifige Reden geerbt hatte.
    »Nein. Erst habe ich mich geweigert. Ich sagte, ich sei Zivilist. Aber einer der beiden schwer Verwundeten beschwor mich, es zu tun. Es waren nur noch zwei Handgranaten da, und ich dachte mir, was soll’s. Einer muss es tun. Sonst sterben wir alle, und wenn ich werfe und es nicht schaffe, sterben wir auch alle, aber wenn ich es tatsächlich schaffe, dann kann ich diesen Männern helfen, den Verwundeten, die gerade ihr Leben dafür riskiert haben, meines zu retten. Also ließ ich mir die letzten beiden Granaten geben, warf und traf mit der ersten.«
    »Wow«, sagte Ben wieder, und diesmal wies ihn Neil nicht zurecht.
    »Und dann haben sie dir einen Orden verliehen?«
    »Ja, es gab einen. Frag Mom, sie hat ihn noch. Die Freiheitsmedaille.«
    Damals, als genügend Zeit vergangen war und klar wurde, dass niemand mehr auf sie schoss, waren die Soldaten im Zickzack zu dem Haus gerannt, aus dem die Schüsse gekommen waren. Einer von ihnen kehrte sofort zurück und gab Entwarnung. Doch er konnte Neil nicht davon zurückhalten, das zertrümmerte Etwas von einem Raum zu betreten. Neil würde nie vergessen, was er dort sah. Vier Kinder, nicht älter als Julie jetzt, Kindersoldaten, von Granatsplittern zerfetzt wie boshaft auseinander gerissene Puppen.
    »Scheiße«, hatte einer der Soldaten hilflos geflucht, während Neil sich übergeben musste. »Scheiße. Du weißt es eben nie.«
    Diesen Teil der Geschichte würde er Julie und Ben nicht erzählen. Heute nicht, und auch später nicht. Sie hatten eine Welt verdient, die anders war.
     
    Die Kinder waren am Freitag eingetroffen; erst am Samstagabend, nachdem er sie ins Bett gebracht hatte, kam Neil wieder dazu, sich vor seinen Computer zu setzen. Er war zu erschöpft, um noch viel zu recherchieren, doch er schrieb noch an Morgan. »Kann es sein, Sphinx«, tippte er, »dass der Mann aus dem Süden sich seit Jahren in einer sehr nördlichen Gegend befindet? Sagen wir, in Alaska? Und wäre er bereit, mit mir zu sprechen, wenn ich sehr höflich darum bäte?«
    Er hatte die Mail bereits in den Ausgangskorb gelegt, als ihm noch etwas einfiel. Er drückte auf

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