Götterdämmerung
Terroristenfreund und Landesverräter!«
Die Kinder waren älter geworden. Früher oder später hatte so etwas kommen müssen, aber heute verletzte es ihn dennoch. Seltsam, dergleichen Vorwürfe waren ihm nichts Neues. Ehe er auf die schwarze Liste der Talkshows kam, hatte einer seiner letzten Auftritte, um das Guantánamo-Buch zu lancieren, dazu geführt, dass ihn Bill O’Reilly in The O’Reilly Factor alles von einem verräterischen Weichling über einen Propagandisten für blutrünstige Barbaren bis zu einem Wiesel genannt hatte, dem jeder Funken Landesliebe fehle. Es waren nur Worte gewesen, nichts als Worte. Aber das aus dem Mund seiner Tochter zu hören, verlieh den Anklagen eine Macht, die sie in den Auseinandersetzungen mit Erwachsenen nie gehabt hatten.
»Ich bin kein Terroristenfreund«, entgegnete Neil so behutsam wie möglich, »und ich liebe unser Land. Ich liebe Amerika.«
»Aber warum sagt ihr Dad dann so was? Ich hab’s auch schon in der Schule gehört.«
Seine Kinder sahen beide zu ihm auf mit Deirdres blauen Augen, die sich unter dem dunklen Haar, das sie von ihm geerbt hatten, weniger wie ein Stück Himmel als wie im Wald versteckte Veilchen ausnahmen.
»Weil ich ein Buch geschrieben habe über die Taliban, die in Guantánamo interniert wurden. Julie, Ben, jetzt hört mir mal genau zu. Wisst ihr, was das Beste an unserem Land ist? Na ja, mal abgesehen von Marshmallows, Rock’ n’ Roll und den Red Sox.«
Sie schüttelten die Köpfe.
»Amerikaner haben als Erste gesagt, dass die Menschen unveräußerliche Rechte haben. Noch bevor die Europäer drauf kamen. Rechte und Gesetze, die für alle Menschen gelten.«
»Alle Menschen sind gleich erschaffen«, zitierte Julie aus der Unabhängigkeitserklärung, und Neil nickte.
»Nicht nur alle guten Menschen. Nicht nur die, die in unserem Land geboren wurden. Wir haben Gesetze dafür, wie man mit Kriegsgefangenen umgeht, und Gesetze dafür, wie man mit Verbrechern umgeht. Aber Mr. Rumsfeld und Mr. Ashcroft fanden seinerzeit, für die Gefangenen, die sie in Afghanistan gemacht hatten, gälte das nicht, weil sie weder normale Kriegsgefangene noch normale Verbrecher seien, sondern eben nur Terroristen. Und damit war ich nicht einverstanden. Weil ich unser Land liebe und an unsere Gesetze glaube.«
»Aber Dad«, sagte Ben, »wenn Terroristen normal eingesperrt werden, dann brechen sie im Film wieder aus und bringen Leute um, und man muss sie wiederfinden und abknallen, bevor sie Los Angeles oder New York in die Luft sprengen. Kannst du nicht solche Filme machen statt Bücher schreiben? Richtig coole?«
»Eure Mutter lässt euch Action-Filme im Fernsehen sehen?«
Julie errötete. »Nein«, murmelte sie. »Aber Ben hat rausgefunden, wie man den Chip vom Fernseher lahm legt. Bitte, verrat uns nicht.«
»Hm. Mal sehen. Was springt dabei für mich heraus?«
»Hey, du kannst uns doch nicht erpressen!«, rief Julie empört. »So was dürfen Väter nicht!«
»Nein? Und ich dachte, das wäre meine Chance, für den Rest meines Lebens nicht mehr arbeiten zu müssen.«
»Du spinnst total, Dad«, konterte Ben, doch er sagte es voller Zuneigung und mit einem breiten Grinsen. Auch Julie lächelte, obwohl sie sich bemühte, schnell wieder ernst zu werden.
»Aber Sadie Thompsons Vater war am Golf und in Afghanistan. Sadie sagt, deswegen sei ihr Vater ein echter Held, und wenn der meint, du bist ein feiger Verräter…« Sie beendete den Satz nicht, sondern schluckte. Auch Ben starrte ihn wieder voller ängstlicher Zweifel an.
»Okay«, entgegnete Neil zögernd. »Ich werde euch eine wahre Geschichte erzählen, die ihr an Sadie weitergeben könnt. Etwas, das geschah, kurz bevor Julie geboren wurde, in Somalia.«
»Was hast du denn in Somalia gemacht, Dad?«
»Berichterstattung für die New York Times über amerikanische Truppen bei einem UN-Einsatz. Ich war mit dem US-Militär unterwegs, in zwei Fahrzeugen. In unserem Jeep befanden sich fünf Soldaten, ein Fotograf und ich. Die Wagen vor uns wurden von einer Mine zerstört. Wir hatten Glück. Wir konnten rechtzeitig abspringen, bevor unser Wagen Feuer fing. Er hatte natürlich etwas abgekriegt. Das war schon schlimm genug, aber wir lagen auch noch genau in der Feuerschneise eines Maschinengewehrs. Der Fotograf war sofort tot, zwei der Soldaten schwer verwundet, und ob von den anderen vor uns überhaupt jemand überlebt hatte oder ob sie nur noch aus in Fetzen gerissenen Leichenteilen bestanden, wussten wir
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