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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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und sie ging weiter, zurück zum Hauptweg. Ein Auto fuhr an ihr vorbei, auf die Zentralgebäude zu, aber sie machte sich nicht die Mühe, auf das Kennzeichen zu achten. Heute kümmerte es sie nicht, wer so spät von einem Ausflug zurückkehrte.
    Sie fragte sich, was Neil LaHaye wohl von ihr halten würde, wenn er sie so sähe. Weniger eine Sphinx als ein Nachtgespenst. Sie fragte sich eine ganze Menge. Das Leben ihres Vaters in Alaska war ihr immer so selbstverständlich gewesen wie die Tatsache, dass sie fünf Finger an jeder Hand besaß. So war sie aufgewachsen. Um zu beurteilen, wie streng oder lax die Sicherheitsvorkehrungen von Livion waren, fehlte ihr jeder Vergleich.
    Neil mit seinen Fragen kam ihr vor wie ein Spiegel, den man ihr in die Hand gedrückt hatte und der alles ein wenig anders und verzerrter wiedergab, als sie es gewohnt war. Ihr war natürlich schon lange klar gewesen, dass Livion in allen Mitarbeitern des Labors, von den Torwächtern bis hin zu Warren Mears und ihrem Vater, in erster Linie nützliche Investitionen sah. Doch es schien ein fairer Austausch zu sein: Sie alle stellten ihre Arbeitskraft zur Verfügung und erhielten dafür jede Unterstützung und eine Umgebung, in der sie ihr Talent voll entfalten konnten. Immer die besten und neuesten Geräte, keine staatlichen Kontrollen, was vor allem die älteren Laborangestellten wie Emily Winterbottom lobend hervorhoben.
    Früher war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass staatliche Kontrolle niemals von ihrem Vater die Art von Isolation gefordert hätte, die Livion von ihm verlangte.
    Erst Neils Fragen hatten in ihr den Verdacht geweckt, dass es nicht die Entscheidung ihres Vaters gewesen war, sich nach Alaska zurückzuziehen. Es musste andere Angebote gegeben haben als das von Livion; er hätte seine Forschungen auch an attraktiveren Orten durchführen können, in Harvard oder in New York oder Los Angeles.
    Lag es an ihr? Jedes Mal, wenn sie daran dachte, wurden sofort Schuldgefühle in ihr wach, die ihr wie Steine im Magen lagen. Ihr Vater hätte überall leben können, aber sie? Eine extrem lichtempfindliche Tochter großzuziehen, war im Süden und in den Großstädten gewiss unmöglich.
    Sie musste an Neils wiederholte Fragen denken, Stolpersteine, über die sie nicht mehr hinwegkam. Ganz gleich, ob es die frühen Untersuchungen ihres Vaters an den Fällen waren, die sich später als AIDS-Kranke herausstellten, oder sein überhasteter Abbruch all dieser Behandlungen, sie fand keine völlig befriedigenden Antworten. Sie hatte ihren Vater danach gefragt, und er hatte erwidert, es sei Teil eines größeren Projekts gewesen; er habe damals am Kaposi-Sarkom wegen einer möglichen Protein-Kombination geforscht, die dem Zerfall von Erbanlagen, wie er durch die beschleunigte Vermehrung von Krebszellen eintrat, entgegenwirkte. Da das Grundproblem der Kranken jedoch in der Umcodierung ihrer T-Zellen durch die Virus-RNA gelegen habe, hätten die damaligen Ergebnisse in eine Sackgasse geführt.
    Es klang logisch. Es klang akzeptabel. Aber sie kannte ihren Vater; auch wenn er ursprünglich an etwas anderem geforscht hatte, sah es ihm nicht ähnlich, das ungelöste Problem, welches das HI-Virus nach seiner Entdeckung darstellte, gänzlich zu ignorieren. Doch seine Arbeit aus den frühen Achtzigern enthielt noch nicht einmal einen kleinen Schlenker hin zur Immunschwäche. Damals beschäftigte er sich, wenn sie das noch in die richtige Reihenfolge brachte, immer noch mit dem Problem der Transplantationsimmunologie. Mitte der achtziger Jahre hatte ihn dieser Forschungsbereich zu den monoklonalen Antikörpern und den genetischen Grundlagen dieser Antikörpervielfalt geführt, bevor er sich dann Anfang der Neunziger den Proteinen und deren Bedeutung und Signalübertragung in Zellen zuwandte, da die Proteine die weit größere Herausforderung gegenüber der Entschlüsselung der Gene darstellten. Alles Dinge, auf denen er heute bei seinen Stammzellen aufbaute. Über die Probleme, die er mit Mears gemeinsam im Staatsauftrag angegangen war, sprach er selbst mit ihr nicht, doch sie konnte sich nicht vorstellen, dass AIDS dabei eine Rolle spielte; das lag zu weit von Mears’ Interessengebiet entfernt.
    Aber wenn er einmal in dieser Richtung geforscht hatte, warum kehrte er nicht später wieder dazu zurück? Selbst aus rein pragmatischer Sicht hätte das Sinn ergeben: Livion vertrieb inzwischen einige der führenden AIDS-Medikamente weltweit. Jedes AIDS-Virus war

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