Götterdämmerung
das.«
»Warren ist da anderer Meinung.«
Ihre Freundin rümpfte die Nase. »Hat er dir wieder eine seiner Jeder-hier-außer-mir-ist-ein-Versager-Reden gehalten? Lass dich von dem doch nicht einschüchtern, die Behandlung bekommen wir alle. Im Gegenteil, wenn du mich fragst, würde Warren jeden anderen hier vor dir feuern.« Neckend fügte sie hinzu: »Du bekommst in letzter Zeit mehr als deinen Anteil der durchdringenden Mears-Blicke. Wenn du mich fragst, im Grunde ist er scharf auf dich.«
Beatrice wusste, dass Tess nur scherzte, doch sie konnte die Grimasse nicht unterdrücken. »Klar«, gab sie sarkastisch zurück. »Deswegen gibt er mir auch bei jeder Gelegenheit zu verstehen, dass ich bloß ein halbwegs kompetentes Sprachrohr meines Vaters bin.«
Mit einer energischen Handbewegung schob Tess den Teller mit dem Heilbutt zur Seite und beugte sich vor. Unerwartet ernst sagte sie: »Bea, jetzt mal ohne Blödsinn. Du kennst die Leute hier alle seit deiner Kindheit, das hat so einen unangenehmen Onkel-und-Geschwister-Effekt, aber als Frau sollte man nie ausschließen, dass ein Mann an dir interessiert sein könnte. Vor allem, wenn man aussieht wie du.«
»Weißhäutig und kuhäugig?«, schoss Beatrice zurück, aber Tess, die sonst so gerne zum Herumflachsen neigende Tess, schüttelte den Kopf und entgegnete immer noch ungebrochen ernsthaft: »Wie eine verwunschene Prinzessin aus 1001 Nacht. Ich würde liebend gerne deine langen Beine haben, statt ständig mit zu dicken Oberschenkeln zu kämpfen, und wenn die Sache mit der Lichtallergie nicht wäre, auch deinen Teint, so rein, wie der ist. Und wenn du dein Haar offen lässt, außerhalb des Labors, langt es, um mich neidisch zum Färbemittel greifen zu lassen. Aber was einem wirklich bei dir im Gedächtnis bleibt, ist die Art, wie du lächelst. Da könnte Julia Roberts glatt neidisch werden. Mit den Augen und mit dem Mund, und man hat dann den Wunsch, dich sofort zu umarmen. Glaub mir, Bea, Männer stehen auf so was.«
Beatrice schaute verlegen auf den Tisch, und Tess lachte.
»Und man sieht, wenn du rot wirst«, schloss sie, und ihre Stimme kehrte zu Beatrices Erleichterung zu ihrem üblichen gut gelaunten Flachsen zurück. »Daran musst du noch arbeiten.«
Insgeheim bezweifelte Beatrice sehr, dass Tess Recht hatte, doch selbst wenn, dann beantwortete das nicht ihre Fragen.
Erneut holte sie sich Mears’ Motive vor Augen; viel wahrscheinlicher war, dass er sie manipulieren wollte, damit sie bei den anstehenden Projekten für ihn und gegen ihren Vater Partei ergriff, nur um sich zu beweisen, dass sie eine eigene Identität hatte. Sie hatte das nicht nötig.
Eine Stimme, die verdächtig der von Warren Mears glich, flüsterte in ihr, dass ihre Freunde, die sie außerhalb des Labors gefunden hatte, ihre Freunde, die sie nie zu sehen bekam, jederzeit Ersatz für sie fänden. Im Netz gab es Millionen Menschen, die alle dieselben Interessen hatten. Außerdem war es leicht, schlagfertig zu sein und Witz zu beweisen, wenn man sich die Antwort überlegen konnte, ehe man sie niederschrieb. Bei einer persönlichen Begegnung würde sie mit der Gefahr leben, dass jeder von ihnen sie ansah und dachte: »Das ist Morgan? Diese farblose graue Labormaus?«
Als das hausinterne Telefon klingelte und sie Mears’ Stimme hörte, schrak sie zusammen.
»Beatrice«, sagte er förmlich, aber weder sardonisch noch irgendwie unfreundlich, »das Gespräch gestern ist mir aus der Hand geglitten. Das tut mir Leid. Eigentlich wollte ich dich bitten, mit mir zusammen an einem wichtigen Projekt zu arbeiten. Ich sehe deine Begabung durchaus, nur hast du da ein Problem: Du nutzt deine Anlagen nicht genügend. Können wir das in Ruhe besprechen?«
Sie willigte ebenso förmlich ein. Sich zumindest anzuhören, was er vorzuschlagen hatte, bedeutete nicht, sich etwas zu vergeben. Außerdem hatte er sich entschuldigt, etwas, das für Mears mehr als ungewöhnlich war. Und sie musste erfahren, um was es ihm ging. Sie hütete sich davor, sich geschmeichelt zu fühlen. Früher einmal, als sie noch glaubte, sich beweisen zu müssen, hatte sie auf eine solche Aufforderung gehofft, trotz der Differenzen, die zwischen ihrem Vater und Mears bestanden. Trotz der Aversionen gegen ihn als Mensch stellte Warren Mears als Wissenschaftler nun einmal immer eine Herausforderung dar, die sie bisher nie angenommen hatte.
Beatrice besaß die Zugangsberechtigung für alle Laborbereiche, doch um in Mears’
Weitere Kostenlose Bücher