Götterdämmerung
versprochen, dass du mal mit uns nach Louisiana fährst, aber wir waren noch nie da.«
Das stimmte. Wenn er mit seinen Cousins, Tanten und Onkeln telefonierte, gab es regelmäßig Klagen darüber, dass sie die Kinder nur von Fotos kannten. Die Gründe dafür reichten von Deirdres dauerhafter Abneigung gegen den tiefen Süden über Zeitmangel bis hin zu der abergläubischen, nie ganz überwundenen Furcht, die in Neil nagte: Die sanfte Schlinge aus Zuneigung, Verfall und Tod, die sich um ihn legte, wann immer er an seine Kindheit dachte. Er wollte sie nicht mit seinen Kindern in Verbindung bringen. Aber Ben und Julie würden von einem Besuch nichts anderes als ein paar neue Eindrücke über Reptilien, Schlangen und Gegenden ohne McDonald’s oder Shopping Malls mitnehmen.
»Dieses Jahr fahren wir«, sagte Neil. »Im Sommer oder im Herbst, und ich besorge mir ein Boot von einem meiner Cousins, und dann zeige ich dir und deiner Schwester die Bayou.«
Das spärliche Licht, das von den Digitalanzeigen und Dioden an Uhren, der Stereoanlage und dem Fernseher kam, fing sich in Bens Zähnen mit der Lücke, die sein zuletzt ausgefallener Milchzahn hinterlassen hatte. Der Junge strahlte.
»Versprochen? Und wir sehen auch die Krokodile?«
»Versprochen, und es sind Alligatoren«, bestätigte Neil und fragte sich unwillkürlich, ob er dann die ganze Angelegenheit mit Sanchez nur als einen weiteren Bestandteil seines neuen Buches sehen würde oder ob der Mann bis dahin immer noch ein zentrales Mysterium darstellen würde. Ob er dann noch immer E-Mails mit einer Unbekannten austauschen würde, oder ob sie zu einer Person geworden wäre, mit der er ein Gesicht verband. Es beschäftigte ihn auch noch, als er Ben wieder zu Bett gebracht hatte.
Als er am nächsten Morgen ungeduldig seine E-Mails abholte, haderte er mit sich. Wenn sie ihren Namen für sich behalten wollte, war das ihre Sache. Es konnte sein, dass er seine Chance, Kontakt zu Sanchez herzustellen, verlor, weil er sie kopfscheu gemacht hatte. Er horchte in sich hinein und stellte fest, dass er auch jenseits der Arbeit bedauern würde, nicht mehr von ihr zu hören. Die Korrespondenz war zu einer langen, immer weder unterbrochenen Unterhaltung mit einer unbekannten Freundin geworden, und er konnte sich nicht vorstellen, auf diesen Gedankenaustausch über das Netz zu verzichten.
Er sah ihren Absender und fragte sich, ob es eine Antwort oder ein Lebewohl sein würde.
Die Nachricht bestand nur aus drei Worten.
»Beatrice. In Alaska.«
* * *
Der Frühling kam in diesem Jahr ungewöhnlich spät nach Alaska. Beatrice unternahm jetzt regelmäßig nächtliche Spaziergänge; die Temperaturen ließen es weder zu, und die weißen Nächte hatten noch nicht begonnen. Die Kälte hielt sie nicht ab, den Gebäudekomplex zu verlassen, sooft es ihr möglich schien.
Sie spürte das Tauwetter in der Luft, als sie dicht vermummt und mit einer Taschenlampe bewaffnet über die ausgetretenen Pfade stapfte. Mehr noch, sie konnte den neuen Frühling riechen. Das verrottete Laub und Gras unter dem alten Schnee war nicht gerade das, was die Dichter priesen, aber sie war über den modrigen Gestank fast erleichtert. Für dieses Jahr hatte sie den Winter satt, selbst wenn sie im Sommer wieder im Labor eingesperrt sein würde.
Unter ihren Stiefeln knirschte die Mischung aus Erde und feuchtem Altschnee. Die paar nassen Flocken, die sich auf ihren Schal und ihre Windjacke setzten, nahm sie kaum mehr wahr. An den Rändern der gesicherten Wege, die für die Angehörigen des Labors freigegeben worden waren, tauchten hin und wieder Schatten auf. Beatrice hatte keine Angst, zu gut kannte sie das Gebiet um den Laborkomplex; und wenn es noch so sehr als Naturreservat galt, waren längst alle Bären umgesiedelt worden. Jeder dieser Pfade war ihr so in- und auswendig vertraut, dass sie ihn blind hätte entlangwandern können. Solange sie noch ein Teenager gewesen war, hatten die Teammitglieder, die wie sie und ihr Vater ständig in dem Komplex lebten, sie abwechselnd auf ihren nächtlichen Spaziergängen begleitet. Inzwischen unternahm sie ihre kurzen Ausflüge an der Grenze zwischen Kälte und drohender Helligkeit schon seit Jahren allein. Die Leute von der Sicherheit wussten Bescheid.
Der Strahl ihrer Taschenlampe fiel auf einen Elch, und sie blieb lange genug stehen, um die gerundeten Spitzen seines Geweihs zu zählen. Dann bemerkte sie, wie die Kälte in ihre Fingerspitzen gestiegen war,
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