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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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der Jagd nach einem Phantom.«
    Sanchez machte eine gebieterische Handbewegung in Richtung auf die Tür, die aus dem Museum zum Friedhof führte.
    »Gestatten Sie mir, Ihnen etwas zu zeigen.«
    Sanchez war bereits durch die Tür getreten, als der Mann an der Kasse ihnen hinterherrief, auf alle Fälle das Spray zu benutzen, das auf dem Treppengeländer stünde. Neil ließ sich das nicht zweimal sagen. Sanchez, der die Insektenschwärme ignorierte, beobachtete ihn stumm.
    »Ist das Ihr Geheimnis?«, fragte Neil trocken. »Sie haben ein unfehlbares Insektenabwehrmittel entwickelt?«
    Sanchez verzog keine Miene, und Neil begann sich zu fragen, ob der Mann überhaupt keinen Sinn für Humor hatte.
    »Nein«, erwiderte der Forscher, als sei die Frage ernst gemeint gewesen.
    Sein Arm beschrieb eine Kurve, die den Friedhof und die Missionskirche einschloss. Neil fiel auf, dass er einen Ehering am kleinen Finger trug; es musste wohl der seiner verstorbenen Frau sein.
    »Wissen Sie, was das Besondere an diesem Friedhof ist, Mr. LaHaye?«
    Neil musterte die bunten kleinen Holzhäuschen, die anstelle von Grabsteinen aufgebaut waren - gelbe, blaue und rot angestrichene, flache Häuschen, gelegentlich mit dreibalkigen orthodoxen Kreuzen, manchmal ohne sie, aber immer ohne jede Art von Inschrift.
    »Das ist ziemlich offensichtlich«, erwiderte er.
    »Ihrer Meinung nach. Sie sehen eine Reihe von ungewöhnlichen Grabarrangements, und wenn Sie die paar Texte zu den Museumsstücken vorher lesen, dann wissen Sie, dass es sich um ein Zugeständnis der russisch-orthodoxen Kirche an die Taneina-Indianer handelte. Keine Inschriften, um die Seelen der Toten nicht zu beleidigen, und Häuser, um ihnen Obdach zu gewähren, bis sie begriffen haben, dass es an der Zeit ist, diese Welt zu verlassen. Aber wissen Sie, was ich sehe, Mr. LaHaye?«
    »Ich bin ganz Ohr.«
    Sanchez ging ein paar Schritte weiter. Seine Schuhe knirschten leise auf dem trockenen, lehmerstarrten Pfad.
    »Eine weitere Einkommensquelle für den Staat Alaska durch einen Appell an das kollektive schlechte Gewissen der Touristen«, sagte er hart. »Eine Illusion. Jeder Besucher hier hat bereits seinen Teil an Friedhöfen gesehen und würde in seiner eigenen Heimat freiwillig keinen besuchen. Aber ein Friedhof mit einem exotischen Touch, äh, das ist etwas anderes!«
    Er drehte sich zu Neil um.
    »Deswegen wollen Sie mich, der exotische Touch, der mich von all den Wissenschaftlern unterscheidet, die Sie hätten interviewen können, Mr. LaHaye«, fuhr er fort.
    »Ich habe mich auf Sie konzentriert, weil Sie Anfang der achtziger Jahre in New York und Los Angeles Untersuchungen an AIDS-Patienten durchgeführt haben und dann verschwunden sind, Dr. Sanchez. Weil Sie für Livion arbeiten und Livion Geld mit AIDS-Mitteln verdient, und mit einem zweifelhaften Medikament, das es, wäre AIDS besiegt, gar nicht mehr geben würde. Denken Sie eigentlich noch manchmal an die Menschen, die Ihnen vertraut haben? Die Hoffnungen, die damals in Sie gesetzt wurden? Wie sich diese Leute fühlten, als der Wunderknabe der Medizin plötzlich nichts mehr von sich hören ließ? Oder sind die Toten für Sie nicht wirklicher als ein paar russisch-indianische Geister hier?«
    »Ich habe AIDS-Patienten untersucht, ohne es zu wissen. Die Krankheit hatte damals noch nicht einmal einen Namen. Ich konnte keine Lösungen anbieten, und ich habe auch nie behauptet, dass ich dazu imstande gewesen wäre«, entgegnete Sanchez nachdenklich. »Was die Toten betrifft, erwarten Sie von mir nicht, dass ich Ihnen Ihre Krokodilstränen abnehme. Sie leben von Katastrophen. Sie arbeiten nicht für eine Welt, in der es kein menschliches Leid mehr gibt. Sie haben nie dafür gearbeitet. Ich dagegen schon.«
    Mit der jahrelangen Übung eines Berufsjournalisten begriff Neil sofort die Blöße, die sich Sanchez gerade gegeben hatte, und schlug sofort zu. »Bitte etwas genauer, Dr. Sanchez. Haben Sie für eine bessere Welt gearbeitet oder tun Sie es noch?«
    Sanchez erwiderte nichts.
    »Wenn diese wohltätige Arbeit allerdings schon ein paar Jahre zurückliegt, würde mich nämlich wirklich interessieren, wann und warum Sie damit aufhörten.«
    Der Forscher steckte seine Hände in die Manteltaschen.
    »Seien wir ehrlich, für jeden von uns sind die Jahre zwischen zwanzig und dreißig die beste Zeit - die Blüte unseres Genies, wenn wir es denn besitzen. Danach sind wir oft nur, nun ja, respektable Arbeiter. Es gibt Dutzende von

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