Götterdämmerung
Wissenschaftlern, die sich in meinem Alter aus der Öffentlichkeit zurückgezogen haben. Aber Sie sehen etwas Einwandererfolklore und das Klischee vom wahnsinnigen Genie direkt aus dem Horrorfilm, rechnen sich eine Chance aus, jemanden aufs Korn zu nehmen, dessen Ansichten nicht den Ihren entsprechen, und hola - eine Story. Eine Gelegenheit, Ihre eigene abgeknickte Karriere wieder etwas auszurichten und etwas von Ihrer eigenen Jugend zurückzuholen.«
Neil, der sich überlegte, wie viel Sanchez über ihn wissen konnte, setzte seine Sonnenbrille auf, um sich gegen das helle gleißende Licht des Tages zu schützen. Er roch das Insektenspray auf seiner Haut, das sich mit dem betäubenden Weihrauch vermischte, der aus der Missionskirche drang, und widerstand der Versuchung, Beifall zu klatschen.
»Hier geht es nicht um mich, Dr. Sanchez«, gab er zurück.
»Natürlich tut es das. Jedes Porträt ist gleichzeitig auch ein Selbstporträt.«
»Eine bemerkenswerte Aussage von jemandem, der seine Aufsätze früher über Erbanlagen geschrieben hat. Aber damit wir uns nicht falsch verstehen, Dr. Sanchez; Sie wollen darauf hinaus, dass Sie sich nur einer normalen kreativen Erschöpfung wegen, wie wir sie alle erleben, zurückgezogen haben, an keinen Konferenzen mehr teilnehmen, nichts mehr veröffentlichen und so weiter? Dass ich Sie mystifiziere, weil ich etwas Geheimnisvolles in meinem Leben brauche?«
Sanchez nickte.
»Interessant«, sagte Neil. »Dann nehme ich an, weil Sie so völlig ausgebrannt sind, hat Sie eines der exklusivsten Unternehmen der Pharmaindustrie engagiert, das regelmäßig Aufträge von der Regierung bekommt? Wissen Sie, wir Medienleute neigen gelegentlich dazu, zynisch zu sein, aber ich hätte die Jungs von der Pharmaindustrie nie für solche Philanthropen gehalten, die verdienten Wissenschaftlern ihren Ruhestand finanzieren, ohne sich zumindest mit ihren Namen schmücken zu können. Da Sie auf Parallelen zwischen uns aus sind: Ich kann Ihnen genau sagen, wie mein Verleger reagieren würde, wenn ich ausrichten ließe, ich wolle zukünftig Honorare und Spesen, ohne Bücher zu veröffentlichen, und wäre strikt dagegen, dass der Verlag mit meinem Namen als Hausautor wirbt. Ein Wohnsitz in Alaska spränge für mich nicht heraus, um es mal milde auszudrücken.«
»Vielleicht«, entgegnete Victor Sanchez, und seine Stimme nahm an Schärfe zu, »liegt das daran, dass Sie nie etwas für die Menschheit getan haben, was Sie einer solchen Berücksichtigung wert machte.«
Es war kein ungeschickter Zug, und schon die zweite Herausforderung, sich zu verteidigen; Neil konnte den Streit sehen, der sich aus dieser Provokation entwickeln würde, die Debatten über die Meriten von systemkritischen Veröffentlichungen. Es war ein alter und beliebter Streit, den er so gut kannte wie seine bequemsten Turnschuhe und dem er selten widerstehen konnte. Sanchez musste darauf setzen. Aber Sanchez täuschte sich in Bezug auf Neils Selbstbeherrschung und Prioritäten. Neil lächelte ihn an und beschloss, ihn seinerseits aus der Reserve zu locken.
»Mag sein«, sagte er und versuchte so friedfertig wie möglich zu klingen. »Haben Sie eigentlich ein Foto von Ihrer Tochter dabei?«
»Was?«
»Ein Foto von Ihrer Tochter. Ich kenne ihre Stimme, ich weiß, wie sie schreibt, aber ich habe sie noch nie gesehen. Ich bin neugierig.«
Bewegung trat in Sanchez’ steinerne Miene. Seine Lippen pressten sich zusammen, und einer seiner Kinnmuskel begann zu zucken. An seiner Schläfe pochte eine Ader.
»Nein.«
»Nein, Sie haben keines dabei, oder nein, ich darf es nicht sehen?«
»Das Aussehen meiner Tochter ist nicht von Belang.«
Ein Ergebnis, aber das falsche, dachte Neil, und zog seine Brieftasche hervor. »Das ist meine Tochter«, sagte er und beobachtete, wie Sanchez einen flüchtigen Blick auf das Foto warf. Julie an ihrem achten Geburtstag; Ben machte Faxen hinter ihrem Kopf, mit einem zahnlückigen Grinsen. Deirdre hatte das Foto gemacht an einem der glücklicheren Tage, die sie am Ende miteinander verbracht hatten. »Und da ist mein Sohn. Sehen Sie, es ist nichts Verwerfliches dabei, auf seine Kinder stolz zu sein, Dr. Sanchez.«
»Meine Tochter ist kein Kind mehr«, erwiderte Sanchez, klang jedoch besänftigt. »Haben Sie auch eine Fotografie Ihrer Ehefrau bei sich?«
»Wir sind geschieden.«
»Ah. Ich glaube nicht an Scheidung.«
»Den Eindruck hatte Ihr Freund Lázaro nicht«, fiel Neil sofort ein, und ihm war
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