Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
Vom Netzwerk:
hellem Sonnenschein empfangen zu werden, war ein eigenartiges Gefühl. Neil hatte sich einen Offroader gemietet, und er stieg in einem bescheidenen Motel ab. Das war keine Urlaubsreise, er wollte so wenig wie möglich auffallen. Trotzdem konnte er nicht umhin, die Landschaft zu bewundern, die riesigen urtümlichen Berge, die offenbar nie ganz von Schnee frei waren und mit den vereisten Wasserfällen so aussahen wie mit Felsen gekreuzte Kristallpaläste, und die graublaue See, die sich durch Fjorde den Weg ins Landesinnere schnitt. Am nächsten Morgen brauchte er nicht lange, um das kleine Bürohaus zu finden, das Livion in Anchorage unterhielt. Er suchte sich einen Platz, von dem aus er alle Eingänge in aller Ruhe beobachten konnte. Soweit seine Nachforschungen stimmten, würde das Büro einmal täglich alle eintreffenden Sendungen an das Labor in die Gegend von Seward oder in Richtung Valdez weiterleiten; an einem dieser beiden Punkte musste der Laborkomplex liegen.
    Dem Parkplatz gegenüber lag ein General Store. Um sein schlechtes Gewissen zu beschwichtigen, kaufte er für Julie einen Plüschelch und fragte sich, ob Deirdre Ben wohl ein Eskimomesser behalten lassen würde. Wahrscheinlich nicht. Einwände, er habe in Bens Alter bereits mit einer ganzen Reihe scharfer Gegenstände Fische ausgenommen, würden mutmaßlich mit einem Hinweis auf den Unterschied zwischen dem ländlichen Louisiana und den städtischen High Schools beantwortet werden, und er konnte noch nicht einmal sagen, dass sie im Unrecht wäre. Er beschloss, Beatrice nach einem geeigneten Geschenk für einen achtjährigen Jungen zu fragen, und brach zu seiner Verabredung mit dem Mann auf, der ihm mittlerweile wie sein persönlicher weißer Wal vorkam.
    Neil brauchte etwa eine Stunde, bis er Eklutna erreichte, was weniger am starken Verkehr von Anchorage lag, als daran, dass er zweimal die richtige Ausfahrt verpasste. Die schmale ungepflasterte Straße führte zu der kleinen russischen Missionskirche, die Beatrice ihm bezeichnet hatte. Der Anblick der beiden Zwiebeltürme berührte ihn auf eigenartige Weise. In New York oder Los Angeles war es selbstverständlich, Gebäude zu sehen, die von den unterschiedlichsten Kulturen geprägt waren, aber hier, mitten in Alaska, wo er bisher nur Holzhäuser, Berge und Wald kennen gelernt hatte, wirkte es fast surreal.
    Als er seinen Mietwagen verließ, begriff er, was Beatrice mit ihrem Hinweis auf Insektensprays und Mücken als den inoffiziellen Staatstieren Alaskas gemeint hatte. Man atmete die Tiere beinahe ein, und die Größe der Exemplare hier ließ die der Landplagen aus dem amerikanischen Süden weit hinter sich. Er flüchtete so schnell er konnte in das kleine Museum, das den Eingang zu dem Eklutna-Areal darstellte. Außer einem gelangweilten Mann hinter der Kasse waren nur drei weitere Personen da. Das Museum bestand aus einem einzigen Raum voller Wandtafeln, auf die jemand Kopien von alten Schwarzweißfotos geheftet hatte, und einem Postkartenständer, der auch schon bessere Tage erlebt hatte.
    »Führung erst wieder in zehn Minuten«, sagte der Kassierer, als Neil bezahlte. Hinter Neil hielt eine Frau mittleren Alters ein Kind an der Hand. Es war kein Kunststück, einen grauhaarigen Herrn mit gelichteten Schläfen und einem gelblichen Teint als Victor Sanchez zu identifizieren.
    Sanchez hatte keine große Ähnlichkeit mit seinen Jugendfotos, was vielleicht daran lag, dass er auf den meisten Aufnahmen zu lächeln pflegte, oder auch an dem schwarzen dichten Haar und der dunkleren Hautfarbe. Auch er erkannte Neil sofort und nickte knapp.
    »Mr. LaHaye«, sagte er, als Neil zu ihm trat.
    »Freut mich, dass Sie gekommen sind, Dr. Sanchez.«
    »Ich war immer der Meinung«, entgegnete Victor Sanchez, und seine Augen blieben dabei völlig ausdruckslos, »dass man unangenehme Dinge sobald wie möglich erledigen sollte.«
    »Um ehrlich zu sein, ich war überrascht, als Sie einwilligten, mit mir zu sprechen.«
    »Mr. LaHaye, Sie mögen sich vielleicht für einen Schriftsteller halten, aber Sie sind im Grunde Ihres Wesens Journalist. Wenn man Journalisten nicht gibt, was sie von einem wollen, dann fangen sie an, sich Geschichten aus den Fingern zu saugen. Sie glauben an Ihre Story, und je länger niemand Ihnen Antworten gibt, desto fester wird Ihre Überzeugung. Werten Sie meine Bereitschaft zu einem Gespräch mit Ihnen nicht vorschnell als Erfolg. Das, was ich zu sagen haben, wird Sie enttäuschen. Sie sind auf

Weitere Kostenlose Bücher