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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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fragte sie zurück.
    »Dass es dir wehtut«, entgegnete er schlicht, und sie ertappte sich dabei, das Telefon noch etwas fester zu halten. »Ich habe allerdings ein paar weitere Fragen«, setzte er hinzu. Er hatte eine angenehme dunkle Stimme, und sie konnte sich seit ihrem Treffen gut vorstellen, wie er seine Lesungen hielt. »Bist du eigentlich je von einem Arzt außerhalb des Labors wegen deiner Lichtallergie untersucht worden?«
    »Nein«, erwiderte sie. »Ich meine, genau weiß ich es nicht. Es ist gleich nach meiner Geburt festgestellt worden, also kann es sein, dass es jemand im Krankenhaus von Anchorage war, nicht hier, aber es hat nie eine Zeit gegeben, in der ich nicht wusste, wie gefährlich die Sonne für mich ist. Manchmal glaube ich, dass meine Mutter mir das als Wiegenlied gesungen haben muss.«
    »Ich tippe eher auf deinen Vater. Weißt du, die Mutter eines meiner Freunde war fotophobisch. Sie hätte niemals so lange wie du mit all den hellen Lichtquellen arbeiten können, die ihr in eurem Labor haben müsst, von den Computerbildschirmen ganz zu schweigen; ihre Augen wären sofort zugeschwollen.«
    »Es ist ein milder Fall«, protestierte sie, doch das, was er da andeutete, schnürte ihr die Kehle zu.
    »Mag sein«, antwortete Neil. »Vielleicht bin ich ja zwischenzeitlich auch zu paranoid. Das ist eine Berufskrankheit. Aber tu mir den Gefallen und lass das von irgendeiner unabhängigen Stelle untersuchen.«
     
    * * *
     
    »Dad«, sagte Julie, und es gelang ihr, das Wort auf vorwurfsvolle vier Silben auszudehnen, »warum musst du unbedingt mit dem Zug kommen? Der Bahnhof hier stinkt!«
    Als Begrüßung in Washington nach mehreren Wochen, in denen sich Neils Kinder telefonisch verleugnen ließen, war es immerhin eine Verbesserung. Wieder meldeten sich seine Schuldgefühle. Julie hatte ihm noch nicht vergeben, dass er sie und Ben nicht wie versprochen zu den Red Sox mitgenommen hatte, Plüschelch hin, Plüschelch her.
    »Dafür bietet der in Boston eine echte Wohltat für Zugreisende«, sagte Neil so unbekümmert wie möglich. »Das Rondell dort hat alle meine Bücher, während sie in den Flughafenläden garantiert auf dem Index stehen. Und der Bahnhof in New York lässt sich ebenfalls sehen, dem haben sie das gesamte Himmelsfirmament ans Deckengewölbe gemalt.«
    Jedes Mal, wenn er Julie umarmte, schien es ihm, als sei sie wieder ein Stück gewachsen. Da er wusste, dass Ben es mit neun als peinlich empfand, öffentlich in die Arme geschlossen zu werden, fuhr Neil ihm durch die Haare und legte die andere Hand auf seine Schulter. »Außerdem dauert es mit dem Flugzeug, rechnet man den Weg zum Flughafen und zurück mit dazu, de facto genauso lange.«
    »Was heißt de facto, Dad? Und was heißt Index?«, fragte Ben, während Julie die Nase rümpfte. Deirdre stand mit verschränkten Armen da und betrachtete ihn.
    »Wie schön, dass es diesmal geklappt hat«, sagte sie kühl.
    Er horchte in sich hinein und fand kaum noch eine Spur der alten Mischung aus Verbitterung, Begehren, Schuldgefühlen und Streitlust. Beatrice fiel ihm ein, wie sie mit ihrem ernsten Gesicht gefragt hatte, ob der Groll, den er gegenüber seiner Frau empfand, seine Art war, an Deirdre festzuhalten. Für ein Mädchen, das wie eine Eremitin aufgewachsen war, konnte sie erstaunlich hellsichtig sein.
    Er gab Deirdre eine freundliche, nichts sagende Antwort, dankte ihr dafür, dass sie sich die Zeit genommen hatte, um ihn vom Zug abzuholen, und ließ sich von ihr und den Kindern zu Matts Wohnung bringen. In seinem alten Haus bei der Familie zu wohnen, selbst für ein kurzes Wochenende, war etwas, das er und Deirdre in stillschweigender Übereinkunft ausgeschlossen hatten.
    Neil hätte sich gerne mit Matt ausgetauscht, und sei es auch nur, um zu hören, ob es plausible Gegenargumente hinsichtlich seines Verdachtes gab; er vermisste das Pingpongspiel, mit dem sie früher gemeinsam ihre Geschichten vorbereitet hatten. Doch Matt verbrachte das Wochenende in New York und hatte überall in seiner Wohnung Aufkleber hinterlassen, um Neil daran zu erinnern, die Schlüssel am Montagmorgen wieder bei der Nachbarin abzugeben.
    »Ich kenne dich, LaHaye. Du bist imstande und lässt mich den ganzen Weg nach Boston fliegen, bloß um meine Schlüssel wieder einzusammeln. Und schalte um Himmels willen die Alarmanlage wieder an, bevor du gehst!«
    Die krakeligen Schriftzüge erweckten das Bedauern, das bei Deirdres Anblick diesmal gefehlt hatte. Erneut sagte

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