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Götterdämmerung

Götterdämmerung

Titel: Götterdämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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sich auf die Bücher setzte, die sie auf ihrem Stuhl aufgebaut hatte, damit die Höhe der Tuba kein Problem mehr für sie darstellte, schnürte ihm die Kehle zu. Ob in Stolz oder Wehmut, hätte er selbst nicht sagen können. Um sich abzulenken, fragte er Ben, wie es an seiner Schule liefe. Ehe der Junge zum Antworten kam, bat die Leiterin der Musikgruppe, eine etwa dreißigjährige Nonne, die laut Programmzettel auch das gesamte Schulorchester dirigierte, um Ruhe. Er versuchte nicht daran zu denken, dass ihn ihr schleierumrahmtes, abgezirkeltes Gesicht an Beatrice erinnerte. Doch ihr fehlte die Wärme, die Beatrice ausgestrahlt hatte, und das Lächeln. Beatrice sollte öfter lächeln, dachte Neil und schüttelte den Kopf. Rasch richtete er seinen Blick wieder auf Julie.
    Die musizierenden Schüler hatten sich bereits wacker durch Greensleeves und ein Volkslied, das er nicht kannte, geschlagen und versuchten sich an einem Medley von John Williams’ beliebtesten Filmmelodien, als Neil spürte, wie jemand hinter ihm sich vorlehnte. Ein Knie drückte gegen seinen Rücken. Er rutschte etwas weiter nach vorne. Das Knie rückte nach. Verärgert wollte er sich umdrehen und stellte fest, dass sich von hinten zwei Hände flach auf die Seiten seines Kopfes legten und ihn entschlossen wieder nach vorne richteten. Er roch den Hauch eines fremden Aftershaves, als jemand ihm ins Ohr flüsterte, sehr, sehr leise, wie das Fallen von frischem Büropapier, während die Fünf-Instrumenten-Variante des Jurassic-Park-Leitthemas es fast unmöglich machte, ihn zu verstehen.
    »Lassen Sie Livion in Ruhe. Und Dr. Sanchez. Sie sind selbst Vater, und es wäre ein Jammer…«
    Im ersten Augenblick begriff er nicht. Dann stiegen Entsetzen und Wut in ihm hoch, erfassten ihn mit der Wucht eines Windstoßes und brachen die Erstarrung, in der er sich befand. Neil wollte den Kopf wenden, als er aus den Augenwinkeln wahrnahm, wie Ben, der zwischen ihm und Deirdre saß und bisher etwas gelangweilt auf seinem Sitz herumgerutscht war, fasziniert auf einen kleinen dunklen Klumpen starrte, den er in den Händen hielt. Rasch beugte Neil sich vor und griff sich das Ding.
    »Dad!«, protestierte Ben.
    Deirdre drehte sich zu ihnen und legte den Finger auf den Mund. Als sie sah, was Neil in den Händen hielt, runzelte sie die Stirn.
    »Ben«, flüsterte sie, »das hättest du nicht mitbringen dürfen. So macht man den Leuten Angst. Wo hast du das überhaupt her?«
    Es war die Plastikimitation eines Armeesprengsatzes. Ein Spielzeug aus einer Zeit, als ein Attentat etwas war, das anderswo passierte. So gut gemacht, dass man den Unterschied auf den ersten Blick kaum bemerkte. Neil spürte sein Herz gegen seine Brust hämmern, sah die Leichen der Kindersoldaten in Somalia vor sich und spürte den dringenden Wunsch, sich zu übergeben, während Ben beleidigt erklärte, der nette Herr hinter ihm habe ihm das geschenkt. Rings um sie setzte ein ungehaltenes »Schschsch!« ein.
    Das Knie gegen seinen Rücken war verschwunden. Noch ehe er sich umdrehte, wusste Neil, dass es vergeblich sein würde. In der Reihe hinter ihm rutschten die Leute ein Stück auf, wie es stets geschah, wenn ein Platz frei wurde, und die Menschentraube, die zwischen den Bänken und der Tür der Turnhalle gequetscht stand, sah nach nichts anderem aus als nach Eltern, die zu spät gekommen waren, um sich noch einen Platz zu sichern. Keiner von ihnen bewegte sich in Richtung des Ausgangs; alle richteten ihren Blick auf die Kinder in der Hallenmitte.
     
    In seinem alten Haus ein Besucher zu sein, kam ihm immer noch merkwürdig vor, doch an diesem Abend hatte er Wichtigeres im Sinn, als über seine gescheiterte Ehe Betrachtungen anzustellen. Nachdem sie die Kinder ins Bett gebracht hatten, flüsterte Neil Deirdre zu, dass er mit ihr reden müsse, und zog sie hinaus in den Garten. Die laue warme Nachtluft von Maryland, angenehm, ohne heiß oder schwül zu sein, umfing ihn wie eine freundliche Umarmung. Deirdre hatte keine Zeit zum Gärtnern und keine Lust, einen Gärtner zu bezahlen, also bestand das, was sie als »Garten« bezeichnete, nur aus Wiese und einem Baum, der schon vor dem Haus da gewesen war. Ab und zu besserten Ben und Julie ihr Taschengeld durch Rasenmähen und Laubrechen auf.
    Er hatte ihnen aus einem festen Strick und einem dicken Aststück eine Tarzanschaukel gemacht und an den Baum gehängt, aber in den letzten zwei Jahren war der Strick verrottet und hätte erneuert werden müssen.

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