Götterdämmerung
er sich, dass sie sich in gegenseitigem Einvernehmen getrennt hatten, eigene Wege gegangen waren; Matt schien in seinem Job glücklich zu sein.
Im Briefkasten steckten Matts Zeitungen, und als er sie durchging, entdeckte er im Wirtschaftsteil der Washington Post etwas, das seine Stimmung hob. Offenbar war der Kurs von Livion um 10,7 Prozent eingebrochen. Er erledigte seine morgendliche Korrespondenz und machte sich auf den Weg nach Bowie. Der Verkehr aus der Stadt heraus war einigermaßen erträglich; zum Glück schienen an diesem Tag nicht allzu viele Leute Richtung Annapolis unterwegs zu sein. Als Neil ein weiteres Mal routinemäßig in den Rückspiegel blickte, fiel ihm allerdings etwas Eigenartiges auf.
Matt hatte ihm auch die Schlüssel für seinen geheiligten Ford Mustang, Jahrgang 1971, überlassen; er hatte das Auto vor ein paar Jahren in Detroit gekauft und fand regelmäßig die Zeit, es selbst zu waschen, weil er niemandem sonst traute. Ab und zu zog Neil ihn mit seinem Autokult auf und nannte das Gefährt Christine, aber er wusste, dass es für Matt nicht leicht sein würde, noch einmal an einen so gut erhaltenen Ford Mustang zu kommen, und fuhr daher besonders vorsichtig. Im Rückspiegel auf einmal einen zweiten Ford Mustang auftauchen zu sehen, in der gleichen Farbe, war eine Überraschung. In einem surrealen Moment von Dejá-vu fragte er sich eine Sekunde lang, ob er im richtigen Wagen saß. Dann siegte die Vernunft, doch Neil war neugierig genug, um zu versuchen, den Fahrer oder die Fahrerin zu erkennen. Etwas langsamer zu fahren, damit der andere näher herankommen oder überholen würde, half allerdings nicht; das Fahrzeug verlangsamte ebenfalls. Neil runzelte die Stirn. Als er den Freeway nach Annapolis verließ, um in Richtung Bowie abzubiegen, folgte ihm das Fahrzeug immer noch. Statt zu Deirdre bog er zu dem Einkaufszentrum am Rand von Bowie und blieb stehen. Diesmal fuhr der Doppelgänger von Matts Gefährt weiter; er konnte die Nummer erkennen und schrieb sie sich rasch mit Kugelschreiber auf den Handrücken, um sie nicht wieder zu vergessen. Vielleicht war es nichts weiter als ein Zufall, aber seit dem Fall mit den Heckenschützen, die just diese Gegend unsicher gemacht hatten, musste mit allem gerechnet werden.
Am Abend saß er mit Deirdre und Ben in der Turnhalle der St.-Agatha-Schule und beobachtete seine Tochter dabei, wie sie mit einigen anderen Mitgliedern des Schulorchesters hereinkam, die Tuba vor sich hertragend, die fast so groß war wie sie. Neil klatschte mit den übrigen Eltern und sah, wie sich ein Strahlen auf Julies Gesicht stahl.
»Ich weiß nicht, warum sie unbedingt die Tuba spielen wollte«, bemerkte Deirdre. »Ich habe ihr gesagt, dass ich sie nur am Freitag und am Montag mit dem Auto zum Unterricht bringen kann, um das Ding zu transportieren, und sie sonst in der Schule üben muss, und was soll ich dir sagen, sie tut es. In ihrem Alter konnte ich nicht schnell genug aus der Schule weg.«
»Ich dachte, du warst im Redaktionsstab der Schülerzeitung und im Schachclub, Mom?«, mischte sich Ben ein.
»Das kam später.«
Die Kinder würden in der Mitte der Halle spielen. Die Holzbänke, auf denen die Eltern saßen, dicht hintereinander geklemmt und an den Seiten aufgebaut, erinnerten Neil an den Grund, warum er Economy-Flüge hasste. Er versuchte vergeblich, etwas mehr Raum für seine Beine zu finden. Elternabende, Schulkonzerte und dergleichen waren vor seiner Scheidung Veranstaltungen gewesen, denen er nach Möglichkeit aus dem Weg ging. Wenn es Gründe gab, die Schule zu besuchen, war Deirdre diejenige gewesen, die diese Termine wahrgenommen hatte, trotz ihres eigenen Berufsalltags. Auch das hatte sie ihm später vorgeworfen. Wirklich angesehen hatte er sich das Gebäude eigentlich nur bei Julies Einschulung und auch damals nur nach einem erbitterten Streit.
»Meine Tochter kommt auf keine katholische Privatschule! Das ist elitär, antiquiert, und außerdem kostet es ungeheuer viel Geld.«
»Neil, wenn du glaubst, dass ich Julie auf eine der öffentlichen Schulen gehen lasse, damit sie lernt, wie man Drogen verhökert und Leute mit dem Messer aufschlitzt, dann hast du dich geirrt. Es tut mir ja Leid, dass du immer noch deine exkatholischen Rachekomplexe hast…«
»Das hat doch damit nichts zu tun!«
»… aber Julie geht vor. Schau dir St. Agatha zumindest mal an.«
Der Anblick seiner Tochter in dem blauen Faltenrock und der Jacke mit dem Schulwappen, wie sie
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