Götterdämmerung: Das Todes-Labyrinth (German Edition)

mit Beginn des zerebralen Zellzerfalls ein spezielles Dirac-Signal aussendet. Dies geschieht im Normalfall ohne Wissen und unabhängig vom Willen des Betroffenen. Nur hat das System nach unseren Recherchen zum fraglichen Zeitpunkt keine einzige Transferanforderung erhalten. Nach derzeitigem Stand müssen wir folglich davon ausgehen, dass die Vogelwesen zum Zeitpunkt ihres biologischen Todes über kein eigenes Bewusstsein mehr verfügten. Das heißt, sie waren im Grunde bereits hirntot, als der vernichtende Angriff erfolgte.«
    Wieder kam Unruhe auf, aber eine ungeduldige Geste des Sprechers ließ das Raunen im Saal rasch wieder verstummen.
    »Regelverstöße hat es zu allen Zeiten gegeben«, fuhr der Junge in etwas ruhigerem Tonfall fort. »Die weniger schwerwiegenden wurden nur registriert, die anderen entsprechend geahndet. Da die Mehrzahl der Vorfälle bislang in den niederen Ebenen angesiedelt war, wurde im Regelfall auch nur der infrage kommende Personenkreis über die verhängten Sanktionen informiert. Was auf Stamfani geschehen ist, liegt jedoch auf einer völlig anderen Ebene. Die unrechtmäßige Aneignung und der Missbrauch von Bewusstseinseinheiten sind in der Geschichte ohne Beispiel, auch wenn es hin und wieder entsprechende Gerüchte gab. Ein derartiger Vertrauensbruch, aus welchen Motiven auch immer begangen, stellt das System in seiner Gesamtheit infrage, und entsprechend hart wird die Administration reagieren, sobald die Verantwortlichen identifiziert sind. Da es inzwischen Hinweise für ähnlich geartete Vorgänge gibt, können wir die hier Anwesenden nur warnen: Niemand steht außerhalb des Gesetzes! Wir sind – auch wenn viele das nicht mehr wahrhaben wollen – nicht die Schöpfer, sondern Nutznießer des Systems, und unser Wirkungskreis beschränkt sich aus gutem Grund auf die konsistente Sphäre. Ich will nicht schwarzmalen, aber es könnte durchaus sein, dass wir alle – unabhängig von unserem Status – unter Beobachtung stehen wie Fische in einem Aquarium …«
    Protestierendes Gemurmel brandete auf und erstarb nach einigen Sekunden wieder wie eine Welle, die sich im Sand verläuft.
    »Wer dies für einen ehrenrührigen Vergleich hält, möge mir vergeben.« Der Junge lächelte, aber sein Blick blieb hart und kalt. »Dennoch dürfen wir uns nichts vormachen: Diese Vorfälle könnten Beobachter des Geschehens durchaus zu dem Schluss führen, dass es uns an Disziplin und Verantwortungsbewusstsein fehlt und wir folglich außerstande sind, das System zu bewahren.«
    Wie auf Kommando setzte in diesem Augenblick die Musik ein mit einer getragenen, in Moll gehaltenen Melodie, die die Worte des Sprechers noch düsterer und unheilverkündender erscheinen ließ.
    »Was dann geschieht, vermag niemand mit Sicherheit zu sagen. Die Menschen der Vorzeit hatten jedoch einen Begriff für den Zusammenbruch jeglicher Ordnung: Götterdämmerung!«
    Die Musik wurde lauter. Posaunen und Waldhörner nahmen die Melodie auf, begleitet von rhythmischen Paukenschlägen ähnlich dem dumpfen Tritt einer im Gleichschritt marschierenden Menge. Das Licht im Saal erlosch nun endgültig und dort, wo eben noch der Junge gestanden hatte, loderten Flammen auf – Flammen, die beängstigend echt wirkten und sich rasch ausbreiteten, bis die gesamte Bühnenfront wie eine tosende Feuerwand auf den Zuschauerraum vorrückte. Aber da war der vom Widerschein der Flammen durchzuckte Saal bereits leer …
        
     

Quellenverzeichnis
     
    Rainer Maria Rilke, »Die Gedichte«, Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig, 1986
    Rainer Maria Rilke, »Geschichten vom lieben Gott«, Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig, 1973
    Günther Schiwy, »Rilke und die Religion«, Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig, 2006
    Stefan Schank, »Rainer Maria Rilke«, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG München, 1998
    Fritz Raddatz, »Rainer Maria Rilke – Überzähliges Dasein«, Arche Literatur Verlag AG, Zürich – Hamburg, 2009
    Danny Sugerman (Hrsg.), »Jim Morrison & The Doors: die kompletten Songtexte«, Englisch-deutsche Ausgabe, Schirmer-Mosel, München – Paris – London, 1992
        
     

Weitere Atlantis Titel
     
    Auf den folgenden Seiten informieren wir Sie über weitere Titel  aus dem Atlantis Verlag. Sie erhalten diese in der Regel überall im Handel als Paperback und eBook, ausgewählte Bücher auch als Hardcover direkt beim Verlag. Die Zeitschrift PHANTASTISCH! erhalten Sie gedruckt direkt beim Verlag und