Götterdämmerung: Das Todes-Labyrinth (German Edition)
»Zeichen« ansehen können? Wobei sich dennoch die Frage stellte, was die Gebäude da draußen mit einem jahrhundertealten Gedicht zu tun haben sollten.
»Anders lässt sich der Nachsatz kaum interpretieren«, bestätigte die KI Farrs Gedankengang. »Da in den Archiven keine Interlingua-Version des Gedichtes dokumentiert ist, habe ich mir erlaubt, eine – allerdings ziemlich freie – Übersetzung zu erstellen. Möchtest du sie hören?«
»Natürlich, hatte ich nicht darum gebeten?«
»Also gut, allerdings ohne jeden künstlerischen Anspruch:
Das letzte Haus des Dorfes steht so allein,
als wenn es das letzte Haus in der Welt wäre.
Die Straße, die das kleine Dorf nicht halten kann,
bewegt sich langsam weiter in die Nacht.
Das kleine Dorf ist aber ein Ort des Übergangs,
ahnungsvoll und ängstlich zwischen zwei Welten,
ein Durchgang, entlang an Häusern anstelle einer Brücke.
Und diejenigen, die das Dorf verlassen, wandern eine lange Zeit,
und viele sterben vielleicht auf dem Weg.«
Darauf gab es nichts zu sagen, und so schwieg der Kommandant und ließ die Verse eine Weile auf sich wirken. Auch wenn es keinen rational nachvollziehbaren Zusammenhang zwischen Ort und Gedicht gab, konnte er sich vorstellen, wie das unerwartete Auftauchen der verlassenen Häuser inmitten der grauen Einöde auf Miriam gewirkt hatte.
Anders als die Hemera war sie ja nicht durch ein Peilsignal hierher geleitet worden, sondern mehr oder weniger zufällig auf die Ortschaft »am Ende der Welt« gestoßen. Musste sie nicht davon ausgehen, dass die frappierende Ähnlichkeit des Dorfes mit der Vision des Dichters ebenjenes Zeichen war, nach dem sie so lange vergeblich ausgeschaut hatte?
Die Frage war jedoch weniger, was Miriam darin gesehen hatte, sondern vielmehr, ob es ein derartiges Zeichen überhaupt geben konnte und wer – falls es denn wirklich eines war – als Urheber infrage kam.
Er dachte lange über eine geeignete Formulierung nach, bevor er der KI jene Frage stellte, die ihn schon seit dem Eintritt in die Singularität beschäftigte:
»Vera, ich weiß, dass du dich nicht für metaphysische Fragen zuständig fühlst. Trotzdem würde ich gern wissen, was du von diesem Ort hältst. Wurde er künstlich erschaffen oder wie könnte er sonst entstanden sein?«
Diesmal lächelte die Frau nicht, als sie antwortete.
»Ich hatte befürchtet, dass du diese Frage eines Tages stellen würdest. Das Problem ist, dass es einen solchen Ort aus Sicht einer Erbsenzähl-Maschine gar nicht geben kann, denn seine Existenz widerspricht allem, was diese Maschine weiß oder rational herleiten könnte. Nur gibt es ihn leider trotzdem mit all seinen physikalischen Unmöglichkeiten und vermeintlichen Wundern. Doch selbst wenn unsere Maschine nicht nur Erbsen zählen könnte, sondern ihrerseits wieder andere Maschinen kennen würde, die eine Menge mehr wissen als sie selbst, dürfte sie dir die Antwort nicht geben, die du erwartest. Sie würde dich nur noch mehr verwirren und davon abhalten, das Nötige zu tun – zumindest aus Sicht derer, denen eine unvollkommene Welt mit all ihren Problemen lieber ist als das Chaos. Das ist die ehrlichste Antwort, die ich dir geben kann, Ray, auch wenn sie dir nicht weiterhilft. Eine Frage kann ich dir allerdings beantworten: Du wirst Miriam Katana wiederbegegnen, unter welchen Umständen auch immer. Aber auch das ist, wie du vielleicht schon ahnst, ein ziemlich billiger Trost.«
Aber wieso? , wollte der Kommandant einwenden, biss sich aber gerade noch rechtzeitig auf die Lippen.
»Und woher willst du das alles wissen?«, fragte er stattdessen ohne allzu große Hoffnung auf Antwort.
»Ich weiß gar nichts«, erwiderte Vera mit einem bedauernden Lächeln. »Dieses Gespräch hat im Übrigen niemals stattgefunden und deshalb gibt es auch keine Aufzeichnungen davon. Ich hoffe, du verstehst das, Ray.«
Raymond Farr verstand vor allem eines: dass Vera und die KIs, mit denen sie auf rätselhafte Weise verbunden war, eigene Pläne hatten und dass es richtig gewesen war, ihr nicht rückhaltlos zu vertrauen.
Dennoch nickte er einsichtsvoll und murmelte etwas Zustimmendes, bevor er weiterfragte:
»Trotzdem und natürlich außerhalb des Protokolls: Was könnte es mit dieser Siedlung auf sich haben?«
»Das weiß ich nicht, Ray. Allerdings glaube ich nicht, dass von dort eine Gefahr ausgeht; zumindest sind keinerlei Feldaktivitäten messbar. Möglicherweise – aber das ist eine reine Hypothese – handelt es
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