Götterdämmerung: Die Gänse des Kapitols (German Edition)
und …« Morcelli brach ab. Seine Mundwinkel zuckten, und er sah aus, als würde er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen.
»Und was?«
»Er hat sie umgebracht«, erwiderte der Direktor tonlos, »vergiftet, alle.«
Wen?, wollte Farr schon fragen, aber dann begriff er und schwieg. Zwar wusste er immer noch nicht, was diese unglaubliche Geschichte mit ihm zu tun hatte, dennoch war er beunruhigt. Es musste einen Zusammenhang geben, sonst hätte sich Morcelli nicht an ihn gewandt.
»Aber weshalb?«, fragte er. »Weil sie ihn verstoßen haben?«
»Er schreibt, es wäre seine Pflicht gewesen, sie zu erlösen.« Der Zirkusdirektor schüttelte kummervoll den Kopf. »Das sei Teil seiner Mission, die aber erst am Anfang stehe. Deshalb müsse er auch abreisen, ohne seinen ›unglücklichen Brüdern‹ – das sind seine eigenen Worte – die letzte Ehre zu erweisen. Und dann kommen Sie ins Spiel, wobei der Text danach immer verworrener wird. Trotzdem sollten Sie sich vor diesem Wahnsinnigen in Acht nehmen.«
»Wenn er tatsächlich wahnsinnig ist«, erwiderte Farr nach einigem Überlegen, »könnte er nach der Tat auch Selbstmord begangen haben.« Der Einwand klang plausibel, aber aus irgendeinem Grund glaubte er selbst nicht daran.
»Ausgeschlossen!« Der Italiener schüttelte energisch den Kopf.
»Also hat sich dieser Malik doch noch einmal bei Ihnen gemeldet, Direktor?«
»Natürlich nicht«, wehrte Morcelli ab, »aber die Polizei hat Hinweise, dass er sich eine andere Identität verschafft und Saint Maurice verlassen hat.«
»Ohne Aufsehen zu erregen?«, erkundigte sich Farr skeptisch. Nach seiner Erinnerung unterschied sich der Körperbau der Harpyien deutlich von dem gewöhnlicher Menschen. Spätestens beim Passieren der Scannerschleuse hätte das auffallen müssen. Es sei denn, dieser Malik wäre auf andere Weise an Bord eines abgehenden Schiffes gelangt …
»Die Behörden haben eine Nachrichtensperre verhängt und geben selbst uns als Betroffenen keine weitergehenden Auskünfte …« Der Direktor zögerte und dämpfte dann die Stimme, als fürchtete er, belauscht zu werden. »Aber es gibt natürlich inoffizielle Kanäle und Informationen, die darin übereinstimmen, dass der betreffende Passagier keine äußerlichen Auffälligkeiten aufwies. Offenbar kam man ihm erst auf die Spur, als sich herausstellte, dass die Person, für die er sich ausgegeben hatte, seitdem als vermisst gemeldet ist. Außerdem hat man in der Wohnung Spuren gefunden …«
Die Geschichte war beunruhigend, auch wenn sie bislang nur auf Gerüchten basierte. Doch selbst ohne offizielle Bestätigung gab es keinen Grund, an Morcellis Aussagen zu zweifeln. Wenn dieser Malik tatsächlich über die Fähigkeit verfügte, seine Gestalt zu verändern, dann war Mutant noch eine sehr zurückhaltende Beschreibung …
»Welche Spuren?«, erkundigte sich Farr mit einem unguten Gefühl. »Heißt das, ihm ist etwas zugestoßen?«
Morcellis düstere Miene nahm die Antwort vorweg.
»Ich fürchte, ja.« Der Direktor räusperte sich. »Angeblich wurde das Opfer verbrannt. Die Überreste werden derzeit noch untersucht.«
Obwohl Raymond Farr nicht Gutes erwartet hatte, trieb ihm die Vorstellung einen Schauder über den Rücken. Wer auch immer dieser Malik war, er hatte nichts mit den harmlosen Geschöpfen gemein, als die Farr die Vogelmenschen in Erinnerung hatte. Sie existierten nicht mehr.
»Danke, dass Sie mich informiert haben, Direktor Morcelli.« Die betonte Förmlichkeit half Farr, seine Verunsicherung zu überspielen. »Wenn es nicht zu viele Umstände macht, möchte Sie noch bitten, mir eine Kopie der Nachricht zukommen zu lassen.«
»Selbstverständlich, Commander.« Der Direktor schien erleichtert, dass Farr keine weiteren Fragen stellte. »Ich wünschte, ich könnte mehr tun, auch um unserer Vögel willen. Sie waren anders als wir, aber sie gehörten doch zur Familie. Der Herr möge ihren armen Seelen gnädig sein.«
Er bekreuzigte sich, während Farr darüber nachdachte, welcher Natur ein Gott sein musste, der Kreaturen wie diesen Malik erschuf. Im Herzen beneidete er den Italiener jedoch.
Nachdem er dem Direktor die Adresse seines geschützten Postfaches mitgeteilt hatte, verabschiedeten sie sich, und die Verbindung wurde getrennt.
Es war vier Uhr morgens. In zwei Stunden würde die künstliche Dämmerung auf Tharsis Base einsetzen, gefolgt von der lärmenden Geschäftigkeit eines gewöhnlichen Arbeitstages auf dem größten
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