Götterdämmerung (German Edition)
völlig im Dunkeln , dachte Oliver zufrieden. Der macht mir erstmal keine Probleme.
Er hatte Franco versprochen, bald zurück zu sein. Das musste er auch, sonst stellte der Trottel wieder irgendeine Dummheit an. Aber vorerst wollte er keinen Gedanken mehr an etwas anders als das bevorstehende Treffen verschwenden. Er war gespannt auf die Frau, diese Hanna. Hoffentlich konnte er sie davon überzeugen, bei ihnen mitzumachen .
Es gibt doch nichts Erbärmlicheres, als bei Rückschlägen aufzugeben , dachte Oliver, stolz auf seine eigene Courage.
Er bog in den Park ein und lief auf die zentral gelegene Wiese zu. Sein Blick streifte kurz das alte Denkmal mit dem Drachen, diesen Klotz aus verwittertem Stein, der sich am Ufer erhob. Auf der anderen Seite des Flusses lag die Stadt in einen überwältigenden Lichtschein getaucht. Er betrachtete das Museum, das von unzähligen Lampen rot angestrahlt wurde. Die Turmspitzen der Kirche. Die beleuchteten Fenster der Hochhäuser dahinter. Doch noch bevor er den Blick abwenden konnte, begannen die Lichter plötzlich zu verschwinden. Zuerst verdunkelten sich die Fenster der Hochhäuser. Danach verlöschten die roten Lampen des Museums. Schließlich die Laternen im Park. Der Drachen verschwand in der Finsternis.
Oliver blieb stehen. Solange er denken konnte, hatte es keinen Stromausfall dieses Ausmaßes gegeben. Stromausfälle, die mehr als ein Gebäude betrafen, waren eine Erscheinung vergangener Jahrzehnte. Verwirrt sah er hoch in den Nachthimmel, aber auch die Sterne waren hinter einer dicken Wolkendecke verborgen. Gleichzeitig schien es ihm, als wäre es mit dem Verlöschen des Lichts ringsum lauter geworden. Den Atem des Windes, der leise über Zweige und die letzten Blätter strich, hatte er vorher nicht wahrgenommen. Ebenso wenig das Knacken im Unterholz und im Geäst der Bäume. In der Ferne hörte er ein leises Grollen, das sich jedoch nicht wiederholte.
Er ging weiter, vorsichtig Schritt um Schritt setzend. Dabei sah er nach unten, dahin, wo seine Schuhe sein mussten, die er nicht mehr von der Wiese unterscheiden konnte. Nach einer Weile hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt und er konnte die verschwommenen Umrisse der Baumkronen ausmachen. Und den kleinen Springbrunnen, ihren Treffpunkt.
Der Brunnen, der zu dieser Jahreszeit außer Betrieb war, lag im Zentrum des Parks. Als Oliver ihn erreichte, schob sich der Mond in eine winzige Lücke zwischen den hoch aufgetürmten Wolken am Himmel und schien fahl auf den verlassenen Park hinunter. Oliver setzte sich auf den Brunnenrand. Er steckte seine klammen Finger in die Hosentaschen und wartete. Vom Nieselregen hatte er nasse Haare. Die Feuchtigkeit war trotz des hochgeschlagenen Kragens bis in seinen Nacken gekrochen. Diese Hanna musste jeden Moment auftauchen. Zumindest, wenn sie es sich nicht anders überlegt hatte – und wenn sie in der Dunkelheit den Weg fand. Und vorausgesetzt, sie war noch gesund.
Zum ersten Mal dachte Oliver darüber nach, ob es nicht doch riskant war, ausgerechnet jetzt mit der Suche nach neuen Mitgliedern zu beginnen. Er nahm sich vor, beim ersten Anzeichen, dass Hanna sich mit HMO A16 infiziert haben könnte, das Weite zu suchen. Andererseits: Anstecken konnte man sich überall.
„Warten wir’s einfach ab“, murmelte er. Er hörte Schritte und ein Rascheln im Gestrüpp hinter dem Brunnen und sprang auf. Das Rascheln verschwand wieder. Wahrscheinlich stammte es nur von einem Tier. Oliver setzte sich zurück auf den Brunnenrand.
Wenige Meter von ihm entfernt stand eine Laterne. Hoffentlich bekommen die Techniker den Stromausfall bald in den Griff , dachte er. Er wollte der Frau wenigstens einmal ins Gesicht schauen. Oliver hatte ein gutes Gespür dafür, wem er vertrauen konnte und wem nicht. Aber dazu gehörte es auch, Gestik und Mimik zu studieren.
Er hörte eine helle Stimme neben sich. „Hallo?“ Abrupt drehte Oliver sich zur Seite. „Ich bin Hanna“, sagte die Stimme. Sie hörte sich wirklich hell an. Kindlich.
Oliver versuchte, die schemenhaften Umrisse der Person genauer zu erkennen, aber der Mond war bereits wieder hinter dichten Wolken verschwunden.
„ Du bist Hanna?“, hakte er misstrauisch nach.
„Erwartest du sonst noch jemanden?“
Oliver runzelte die Stirn. „Wie alt bist du denn?“
„Alt genug.“
„Volljährig?“
„Auf der Seite stand nicht, dass man volljährig sein muss.“
„Also wie alt bist du nun?“
„Dreizehn.“
„Na toll“,
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