Götterdämmerung (German Edition)
„Ich bin dreiundachtzig geworden, und das ohne Arzt, na ja, jedenfalls wenn man meinen Zahnarzt nicht mitzählt – ich brauche ja schließlich ein paar Zähne zum Kauen. Aber sonst …“ Er drehte sich wieder um und starrte in die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Fahrzeugs. Ben bemerkte, dass ihm die Augen bis auf einen Spalt zufielen und der Kopf zur Seite kippte. Er beugte sich nach vorn und griff ins Lenkrad.
„Läuft der Autopilot?“, rief er laut. Max zuckte zusammen und riss die Augen auf. Dann drückte er eine Taste seines Displays. „Jetzt läuft er“, sagte er müde. „Du kannst das Lenkrad loslassen. Weck mich, wenn der Wagen Probleme macht!“, murmelte er. „Ein alter Mann wie ich braucht auch mal eine Pause.“
„Okay.“ Ben lehnte sich zurück und beobachtete, dass Max wieder die Augen schloss. Abwechselnd richtete er seinen Blick auf den alten Mann und das Display des Navigators. Das Fahrzeug befand sich auf dem kürzesten Weg zum Schloss, inzwischen hatten sie schon weit mehr als die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Doch Ben überlegte, ob er den Zielort nicht ändern sollte. Diese Apathie, die Müdigkeit, die Art und Weise wie Max zusammengesunken in seinem Sitz hing, gefielen ihm nicht. Besser, er fuhr mit Max in die nächste Klinik.
Nachdenklich sah er hinaus auf die dunkle Straße. Sein Blick streifte über schwarze Felder. Ihnen kamen noch weniger Fahrzeuge entgegen als bei der Hinfahrt. Wie es aussah, hielten sich die meisten Leute an die Ausgangssperre. Alles wirkte ruhig. Nur ein riesiger Vogelschwarm querte kreischend die Straße.
Ben beugte sich seitwärts über den Fahrersitz zum Navigator und löschte das eingegebene Ziel. Stattdessen gab er die Anweisung, zur nächstgelegenen Klinik zu fahren. Der Wagen wendete selbstständig und fuhr in die entgegengesetzte Richtung.
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Als Tom die Nachricht von Ninas Tod erhielt, war er nur noch wenige Kilometer mit seinem Van von der Zentrale entfernt. Er nahm die Information ohne äußere Regung zur Kenntnis. Er hielt nicht an. Wendete nicht. Er sagte nichts und dachte auch nichts. Er fuhr einfach weiter in die einmal eingeschlagene Richtung. Fast schien es, als wäre die Nachricht überhaupt nicht bei ihm angekommen. Es bereitete ihm nicht viel Mühe, die Information zu verdrängen. Viel weniger jedenfalls als sie anzunehmen. Er hatte immer noch Kopfschmerzen und spürte die Nachwirkungen des Alkohols, auch wenn sich diese Wirkung eher als Kater, denn als betäubender Rauschzustand zeigte.
Ohne zu überlegen, schaltete Tom den Autopiloten ab und übernahm die Steuerung des Wagens. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Tom konzentrierte sich ganz auf die Straße, die nass glänzend vor ihm lag. Als er die Zentrale erreichte, fuhr er daran vorbei. Weiter. Ins Nichts. Er wusste nicht, wohin er wollte. Er wusste nur, dass er jetzt nicht anhalten und aussteigen konnte. Er brauchte diese Leere in seinem Kopf. Wenigstens noch eine Weile.
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Die hereinbrechende Dunkelheit setzte sich zwischen die wenigen Lichter, die es in der verlassenen Gartensiedlung gab. Sie verdeckte Gestrüpp, von Unkraut überwucherte Rasenflächen und halb zerfallene Lauben. Die Anlage gehörte seit zwei Jahren einem privaten Investor, der einen Büroturm darauf errichten wollte, sich seither jedoch nicht um das Grundstück gekümmert hatte. Vielleicht fehlte ihm mittlerweile das Geld dafür.
Oliver achtete nicht auf seine Umgebung. Er war immer noch wütend auf Simon. Verdammt wütend. Noch wütender war er allerdings auf sich selbst, weil er nicht mit dem Angriff gerechnet hatte.
Sein einstiger Freund und Weggefährte war gefährlich geworden. Ein ernst zu nehmendes Sicherheitsrisiko. Jetzt blieb ihm nichts weiter übrig, als ihn zum Schweigen zu bringen. Bis zu jenem Moment, als Simon ihn angegriffen hatte, konnte sich Oliver durchaus noch vorstellen, dass sich alles aufklärte und als Missverständnis herausstellte. Immerhin war Simon bisher einer seiner zuverlässigsten Anhänger gewesen. Diese Option hatte er nun endgültig verspielt.
Aber eins nach dem anderen. Um Simon würde er sich nach dem Treffen im Park kümmern. Yasmin befand sich bei Franco. Mit dem Mädchen als Unterpfand konnte er sich diese Verzögerung leisten. Simon würde nichts unternehmen, solange er nicht wusste, wo Yasmin sich aufhielt. Er hatte ihn vorerst in der Hand. Gut, dass er Franco bei ihrem letzten Gespräch nicht erwähnt hatte.
Der Idiot tappt
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