Götterdämmerung (German Edition)
lächelte, wirkten ihre Gesichtszüge traurig. Und die Blässe ihrer Haut verschwand auch im Sommer nicht ganz.
Durch die geöffnete Tür blickte Eva zum Wohnzimmerschrank. Dort, in der obersten Schublade, befand sich der Speicherchip mit den Fotos ihres verstorbenen Mannes. Sie brauchte die Bilder nicht anzuschauen, um ihn vor sich zu sehen. Die Erinnerungen waren in all den Jahren kaum verblasst. Eva seufzte. Zwar kam sie mittlerweile ganz gut zurecht, aber an Tagen wie diesem, wenn etwas Unangenehmes passierte, wünschte sie sich, ihre Gedanken und Ängste mit jemandem teilen zu können. Bisher hatte sie es noch nicht wieder geschafft, einen Mann so nahe an sich heranzulassen.
Nachdenklich kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. Sie stoppte kurz vor ihrem Lieblingssessel, setzte sich jedoch nicht. Stattdessen stellte sie die Mousse und den Rotwein auf den Couchtisch und tappte zum Fenster.
Der Mann war immer noch da. Er hatte sich keinen Meter weiterbewegt.
•
Es war spät geworden heute. Die Kneipe hatte bereits vor einer Stunde geschlossen. Seitdem saß Tony an einen Baumstamm gelehnt am Flussufer und sah auf das Wasser hinaus, dessen Oberfläche sich leicht kräuselte. Inzwischen hatte es fast aufgehört zu regnen, aber natürlich war die Wiese nass, ebenso wie sein Hosenboden. Ab und zu nahm Tony einen Schluck Doppelkorn aus seiner Flasche. Der Alkohol wärmte ihn, aber nicht genug, um die Kälte und die Feuchtigkeit nicht zu spüren. Es wurde Zeit, nach Hause zu gehen. Falls man die alte Baracke, in die er sich verkroch, seit er seinen Job als Hausmeister verloren hatte, ein Zuhause nennen konnte.
Er nahm einen letzten Schluck aus der Flasche und erhob sich schwankend. Mit der freien Hand stützte er sich am Baumstamm ab, sah in den Sternenhimmel, der sich über ihm drehte und lachte leise. So weit war es also gekommen. Er war ein Säufer, ein Penner, der in einem heruntergekommenen Gartenhäuschen hauste. Nur gut, dass seine Mutter davon nichts mehr mitbekam. Das war das Gute am Tod: dass man dem Elend entfliehen konnte. Tony nahm noch einen Schluck. Auf seine Mutter!
Er sollte mit dem Trinken aufhören. Aber wozu? Was erwartete ihn noch? Ein paar Jahre, die er untätig in der Baracke absaß! Einen neuen Job konnte er sich abschminken – nicht bei zehn Millionen Arbeitslosen, da warteten sie bestimmt auf einen wie ihn. Eine Familie hatte er nicht. Also was sollte noch kommen?
Torkelnd lief er vom Flussufer weg in den kleinen Park, hinter dem seine Unterkunft lag. Abseits der Hauptwege war der Park ungepflegt und verwahrlost. Auf dem Rasen lag Müll. Flaschen, Taschentücher, dazwischen Hundekot.
„Mistköter“, murmelte Tony. Dann stellte er die Flasche auf den Boden und pinkelte gegen einen Baum. Das Rascheln hinter sich bemerkte er nicht.
„Schnaps, du edler Götterfunke“, lallte er. „Schlingel aus Elysium, nieder mit –“
Neben ihm knackte es und Tony hielt inne.
Dämliche Eichhörnchen.
Oder war es ein streunender Hund? Neugierig folgte er dem Knacken und stand einem riesigen, metallenen Körper gegenüber. Einem Roboter.
„Mann, was hast du nachts im Park zu suchen?“, stammelte er. „Hast mich erschreckt.“
Er rieb sich die Augen. Der Roboter schaukelte vor seinen Augen hin und her, ihm wurde ganz schlecht davon. Verdammter Schnaps!
„Hau ab!“, krächzte er. „Haste nichts zu tun?“
Der Roboter sah ihn an, hörte jedoch nicht auf zu schaukeln. Tony warf ihm die Flasche Korn gegen die Beine. Die Flasche zerbarst. Rinnsale flossen die Beine der Maschine hinunter.
„Kannste haben“, brummte Tony und machte eine abfällige Handbewegung. „Will ich nich’ mehr.“
Der Roboter senkte den Kopf und sah an sich herunter. Dann formte er seine Hand zu einer Zange, packte Tony am Hals und zerquetschte ihn.
•
Ben rannte die kleine Straße entlang nach Hause. Er war gleichzeitig müde und hellwach. Seine Haare waren nass, ebenso wie seine Kleidung. Er hatte Angst davor, den Männern erneut in die Arme zu laufen, aber noch mehr Angst hatte er davor, zu spät zu kommen. Unaufhörlich kramte er in seinem Gedächtnis, woher ihn die Männer kennen mochten und was er getan hatte, das diesen Alptraum erklärte.
Ihm fiel nichts ein. Er war nur ein normaler Junge mit einer normalen Familie, einem normalen Zuhause und einem unspektakulären Alltag. An ihm war nichts Besonderes. Na ja, vielleicht doch. Ein paar Mal hatte er für die Universität, an der sein Vater den
Weitere Kostenlose Bücher