Götterdämmerung (German Edition)
Lehrstuhl für Physik innehatte, einige Berechnungen durchgeführt. Sein Vater hielt ihn für hochbegabt, eine Ansicht, die Ben nicht teilte.
Er hatte die Schule längst verlassen. Alles, was er darüber hinausgehend wusste, verdankte er seinen Eltern. Sie hatten ihn gefördert. Sie waren sein Lebensmittelpunkt, um den er kreiste. Waren es die Berechnungen, die die Männer auf ihn aufmerksam gemacht hatten? Möglicherweise. Eine bessere Erklärung hatte er momentan nicht, aber sie befriedigte ihn nicht ganz. Was er an der Uni gemacht hatte, war unspektakulär gewesen.
Ben beschleunigte seinen Schritt weiter und bog in die Straße ein, in der die Villa seiner Eltern stand.
Gleich bin ich da , dachte er. Aber was dann? Was soll ich machen?
Er fand keine Antwort darauf.
Ich darf auf keinen Fall die Polizei rufen! Papa hat es verboten. Keine Polizei! Egal, was passiert, ich muss allein klarkommen!
Vielleicht hatte er Glück und die Männer überlegten es sich anders. Vielleicht kamen sie erst am nächsten Tag oder ließen es ganz sein. Oder sie fanden die Straße nicht. Ben wusste, dass das nur ein schwacher Hoffnungsschimmer war. Natürlich würden sie die Straße finden. Jeder, der etwas auf sich hielt, hatte einen Navigator dabei. Damit konnte man sich überhaupt nicht verlaufen. Dennoch klammerte er sich an diese Hoffnung wie ein Ertrinkender an einen morschen Holzbalken, der im Wasser schwamm.
Er kam an dem Hof mit den beiden Dobermännern vorbei, die sofort anschlugen, als er das Tor passierte. Noch zwei Häuser. Vor ihm tauchte schon das Dachgeschoss der alten Villa auf, in der Ben mit seinen Eltern lebte. Er erkannte die Satellitenschüssel auf dem Dach und registrierte, dass die Fenster im Obergeschoss dunkel waren.
Die Straße machte einen Knick und Ben wurde langsamer.
Mach sie bloß nicht auf dich aufmerksam , ermahnte er sich.
Er wechselte die Straßenseite und pirschte sich im Schutz der Hecken langsam näher an die Villa heran. Sofort fiel ihm auf, dass das große schmiedeeiserne Tor offen und der BMW in der Einfahrt stand. Ben lehnte sich an die Hecke und wartete. Er beobachtete die Einfahrt. Der Wagen bewegte sich nicht.
Unruhig knetete Ben die Finger in seinen Jackentaschen. Nichts passierte. Sein Vater hätte den Wagen niemals einfach so draußen stehen gelassen. Er war sein ganzer Stolz – und wenn er ihn aus der Garage holte, benutzte er ihn auch.
Ben biss sich auf die Lippen und schlich rückwärts von der Villa weg. Er sollte besser nicht in der Einfahrt auftauchen. Dort würde er am ehesten erwartet.
Ich muss durch den Nachbargarten, entschied er. Dann komme ich von hinten an das Haus heran.
Die Rückseite des Grundstückes war auch weniger hell beleuchtet. Abgesehen von zwei kleinen Solarlampen und einem beleuchteten Brunnen, gab es keine Lichtquellen.
Er lief die Straße ein Stück zurück und huschte dann auf das benachbarte Grundstück. Ein Strauchbeet trennte es von den Nachbargärten ab. Ben sah sich aufmerksam nach allen Seiten um und horchte, ob er irgendetwas Auffälliges hörte. Geräusche, Stimmen. Nichts. Alles war ruhig. Er duckte sich und verschwand hinter den Sträuchern.
Durch die breite Glastür, die vom Haus auf die Terrasse führte, sah er, dass sein Nachbar sich einen Film anschaute.
Wenigstens falle ich ihm nicht auf, dachte Ben. Am Ende hält er mich noch für einen Einbrecher.
Sein Nachbar, ein allein lebender Rentner, saß verkabelt und mit Spezialbrille auf einem der neuen interaktiven Simulationsstühle, die auf Wunsch Bewegungen so täuschend echt nachahmten, dass man sich mitten in einem verfolgten Auto oder einem Tauchboot fühlen konnte. Das war nicht neu, aber immer noch recht kostspielig. Ben grinste unwillkürlich, als er den alten Mann beobachtete, der sich krampfhaft an der Lehne seines Sessels festhielt und durch seine Brille auf einen imaginären Punkt starrte. Dann löste er sich von der Scheibe und lief weiter. Er durfte keine Zeit verlieren. Ben durchquerte den Garten und schlüpfte durch ein Loch in der Hecke auf das Grundstück der Villa.
Er stand nun auf der Obstwiese. Eigentlich handelte es sich um eine ganz normale Wiese, auf der im Herbst jede Menge ungenießbarer Pilze wuchsen. Der letzte Apfelbaum war schon vor Jahren gefällt worden, nachdem ein Sturm ihm die morschen hölzernen Knochen gebrochen hatte. Die Terrasse befand sich weiter östlich.
Geduckt schlich der Junge näher heran, bis er durch die Fenster etwas erkennen
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