Götterdämmerung (German Edition)
finden. Stattdessen fühlte er kaltes Gras zwischen seinen Fingern, spürte dass seine Hose nass an ihm klebte und dass er Schuhe trug. Mühsam öffnete er die Augen einen Spalt weit und starrte orientierungslos in die dunklen Baumkronen über sich. Warum schlief er nicht in seinem Bett?
Er erinnerte sich daran, dass seine Mutter ihm vor langer Zeit von ihrem Bruder erzählt hatte, der jedes Mal nachts bei Vollmond das Haus verlassen hatte, in die Garage geschlichen war und dort auf dem Rücksitz des alten Mitsubishi ihres Vaters zusammengerollt weitergeschlafen hatte. Ben lächelte. Dann setzte er sich auf und starrte in die Dunkelheit ringsum. Wo war er? Er tastete nach seinem Kopf. Hinter seiner Stirn spürte er einen dumpfen Schmerz, den er erst jetzt, nachdem er zu sich gekommen war, richtig wahrnahm.
Dann fielen ihm plötzlich die Männer wieder ein und er begann zu zittern.
Das ist nicht wahr , hämmerte es in seinem Kopf. Ich bin noch gar nicht wach . Ich muss mich wieder hinlegen und einschlafen und wenn ich dann aufwache, ist dieser Alptraum vorbei.
Er ballte die Hände zu Fäusten, presste sie an die Schläfen und begann sich wie ein Kind hin und her zu wiegen. Er schaffte es jedoch nicht, wieder einzuschlafen. Ben ließ die Hände sinken, dann stand er langsam auf, wobei er sich ängstlich nach allen Seiten umschaute. Die Kälte der Oktobernacht spürte er nicht. Was ihn frösteln ließ, waren die grauenhaften Erinnerungen. Was würde er vorfinden, wenn er zum Haus kam?
Wie ferngesteuert setzte sich der Junge in Bewegung und schlich in Richtung Villa.
Wo sind sie ? Wo haben sie sich versteckt?
Er stolperte über etwas Weiches und hätte fast geschrien, steckte sich aber im letzten Moment die Faust in den Mund und biss auf seinen Zeigefinger. Er musste sich beherrschen, nur so hatte er eine Chance.
Oh Gott , dachte er. Lass es nicht Papa gewesen sein!
Er erinnerte sich an das unheimliche Röcheln im Gebüsch und daran, dass Vince aufgesprungen war.
Da war etwas . Etwas Unheimliches, Gefährliches .
Es musste die Männer vertrieben haben. Er hatte Glück gehabt. Ben lächelte bitter. Was hatte seine Situation schon mit Glück zu tun?
Im Wohnzimmer brannte Licht. Seine Mutter lag zusammengekrümmt auf dem Boden. Sie bewegte sich nicht. Von den Männern keine Spur. Ben passierte die geöffnete Terrassentür, schloss sie hinter sich, ließ per Knopfdruck die Jalousie herunter und wandte sich der Gestalt neben dem Hocker zu. Er verdrängte den Gedanken daran, dass es seine Mutter war und zwang sich, vernünftig zu handeln. Das Blut auf dem Boden und ihrer Brust, das zum Teil schon getrocknet war, blendete er aus. Er sah nur eine Person, die Hilfe brauchte. Wie ein Dummy in einem Erste-Hilfe-Kurs.
Was jetzt? Der Puls. Ich muss den Puls messen. Oder zuerst den Notarzt rufen? Was macht man zuerst?
Er atmete tief ein und beschloss, seiner ersten Eingebung zu folgen. Dann konnte er der Rettungsstelle zumindest mitteilen, ob seine Mutter noch lebte. Vorsichtig, wie um sie nicht zu stören, setzte er sich neben die Frau auf den Teppichboden und suchte ihre Halsschlagader, so wie er es vor langer Zeit mal gelesen hatte. Er glaubte, einen schwachen Puls zu fühlen, war sich aber nicht sicher. Mit zitternden Händen wählte er die Notrufnummer.
„Es dauert einen Moment“, sagte eine freundliche Frauenstimme, die zweifellos von einer automatischen Ansage stammte. „Aber wir schicken schnellstmöglich jemanden vorbei. Ahornweg dreizehn, bestätigen Sie bitte die Adresse!“
Ben bejahte, legte auf und lief unruhig im Raum umher. Dann holte er Wasser und ein nasses Tuch, das er seiner Mutter unbeholfen auf die Stirn legte.
„Wo ist Papa?“, flüsterte er und nahm ihre Hand. Sie reagierte nicht. Er bekam nicht einmal ein leichtes Zucken ihrer Mundwinkel als Antwort. Dabei kannte Ben die Antwort bereits, er brachte es nur nicht fertig, den fremden Männern Glauben zu schenken.
Er wandte den Blick ab und starrte auf einen Ketchupfleck an der Wand, der noch vor wenigen Stunden nicht dort gewesen war. Stunden, die sein Leben in eine Art Parallelwelt verschoben hatten, in der er nie hatte aufwachen wollen. Von nun an würde nichts mehr sein wie früher.
Egal, was passiert, du darfst nicht die Polizei rufen , mahnte die Stimme seines Vaters. Damit machst du es nur noch schlimmer.
Ben schüttelte resigniert den Kopf. Wie viel schlimmer konnte es denn noch werden? Wenn wenigstens bald der Rettungswagen
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