Götterdämmerung (German Edition)
Gräber in der Dunkelheit zu.
Nadja schrie und schlug dumpf auf dem Boden auf.
Sie lag auf dem Parkettfußboden in ihrem Appartement und keuchte. Obwohl höchstens 16 Grad im Zimmer sein konnten, war ihr T-Shirt schweißgetränkt. Vorsichtig bewegte sie Hände und Füße. Sie wollte sicher gehen, wirklich ganz aus ihrem Alptraum aufgewacht zu sein – und stieß mit dem Ellbogen gegen das Bettgestell. Sie war wach. Gut.
Zögernd setzte Nadja sich auf dem Fußboden auf, zog ihre Bettdecke zu sich herunter und drückte den weichen Stoff an sich. Wie lange hatte sie geschlafen? Müde drehte sie den Kopf ihrem rot leuchtenden Wecker zu. Es war kurz nach vier.
Na prima . Ich schaffe es noch nicht einmal, zwei Stunden durchzuschlafen.
Immerhin hatte sich ihr Atem halbwegs normalisiert und der Puls schlug etwas langsamer.
Ich muss endlich diese Schuldgefühle loswerden!
Aber wie? Es half nichts, wenn sie sich einredete, dass es nicht ihre Idee gewesen war oder dass sie es nur gut gemeint hatte. Dass sie den Menschen, die keine Ahnung gehabt hatten, was das Experiment aus ihnen machte, helfen wollte. Weil es nicht stimmte.
Aber du kannst nichts mehr für sie tun, flüsterte eine tonlose Stimme in ihrem Kopf. Und sie hätten sowieso nicht mehr lange zu leben gehabt.
„Weiß ich selbst“, murmelte Nadja in das leere Zimmer und erschrak über ihre eigene fremde Stimme. Für die Toten konnte sie nichts tun. Aber da gab es noch diesen einen …
Sollte sie ihn aufwecken? Und dann? Sie würde ihm einen Schock versetzen. Wem sollte das irgendwie helfen? Außerdem konnte sie ihren Job nicht einfach so aufs Spiel setzen! Dafür hing sie zu sehr an ihrer Arbeit. Das Schlimmste war, dass sie außer mit Eisenberg mit niemandem darüber reden konnte. Sie konnte keine Therapie machen, sich nicht mit ihrer besten Freundin austauschen, mit ihrer Familie schon gar nicht. Sie war so allein, wie man nur sein konnte.
Nadja stand auf und lief auf Zehenspitzen durch die kalte Wohnung. Obwohl sie bereits seit fünf Jahren hier wohnte, standen immer noch dutzende Umzugskartons herum, die sie nicht ausgepackt hatte. Die meisten Bilder hatten noch keinen Platz an der Wand gefunden, obwohl die leere weiße Wand geradezu nach etwas Farbe schrie. Sogar die Deckenlampen lagen immer noch verpackt in einem Karton in der Ecke. Der einzige Raum in der Wohnung, der auf den ersten Blick aufgeräumt aussah, war die Küche. Das lag an den Einbaugeräten. Und daran, dass sie sie so selten benutzte.
Oben auf dem Küchenbord, an einer Stelle, auf die sie so gut wie nie schaute, stand die Geburtstagseinladung ihrer Schwester. Nadja hatte bereits zugesagt, aber sie wusste, dass sie nicht hingehen würde. Sie hatte keine Lust auf Statements von der Sorte: „Du solltest öfter mal eine Pause machen! Du siehst schlecht aus. Wann warst du das letzte Mal im Urlaub? Oder ihre Mutter: „Nadja, mein Kind, du bist so blass. Geht es dir gut?“
Diese Sätze hatte sie alle schon zigmal gehört, ebenso wie ihre Familie die immer gleichen Antworten schon zigmal gehört hatte.
„Es geht mir gut, Mama. Ich habe viel zu tun, ja, aber es macht mir Spaß. Ich brauche wirklich keine Auszeit!“
Dann würde sie ihre beiden Neffen vorgeführt bekommen, die musikalisch so begabt seien und so perfekt und sie würde hören, wie glücklich ihre Schwester war. Und sie müsste ihr strahlendes Lächeln aufsetzen, beifällig nicken und von ihrer Arbeit schwärmen, um zu demonstrieren, dass sie selbst nicht minder zufrieden war.
Nein, dieses Jahr mussten sie ohne sie auskommen. Ein kurzer Anruf war alles, wozu Nadja sich aufraffen konnte.
Sie schaltete den Kaffeeautomaten ein und bestellte einen doppelten Espresso. Während die Maschine arbeitete, ging Nadja zum Fenster und sah hinaus in die Nacht. Die Stadt war wie immer hell beleuchtet. In der Ferne entdeckte sie Blaulicht. Es mussten dutzende Wagen sein. Nadja wunderte sich nicht darüber. Der Anblick von Einsatzwagen, egal ob von Polizei, Feuerwehr oder Medizinischem Rettungsdienst, gehörten so selbstverständlich in ihre Gegenwart wie der Wetterbericht am Morgen. Sie fragte sich kaum noch, was passiert war.
Wir haben es uns so schön vorgestellt , dachte sie. Aber niemand kann in die Zukunft schauen.
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Als Ben aufwachte, streckte er zuerst seine Hand aus, um nach der Uhr auf seinem Nachttisch zu greifen. Sicher konnte er noch eine Weile schlafen, es war ja noch dunkel. Doch er konnte den Nachttisch nicht
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